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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

selbstsüchtig war ich dagegen gewesen! Fern in dem fremden Norden, flüchtig, ohne Freund, getrennt von allen meinen Lieben, ohne Nachricht von ihnen, und sie ohne Nachricht von mir, meine theure, ehrwürdige Mutter und Du, meine über Alles geliebte Marie! Mein braver König im Exil mit zerrissener Krone; die edle Königin mit dem zerrissenen Herzen, wie bald wird es, muß es völlig brechen. Mein Vaterland –. Aber kann auch nicht dieser Brief in fremde Hände fallen, wie die anderen? Ich hatte gemeint, meine Leiden, mein Schmerz müsse weit Alles übertreffen, was das Schicksal Schweres über Euch verhängen könne. Wie selbstsüchtig war ich! Wie unendlich größer, tiefer, schwerer war Dein Leiden, Du Engelgute!

„Möge es sein Ende gefunden haben, möge nur Glück und Freude für Dich blühen! Wir Alle hier kennen keinen anderen Gedanken, ich, meine Mutter, die gute Emma. Wie freuen sie sich, Dich kennen zu lernen, Dich mit mir in ihre Arme zu schließen, Dich mit mir zu lieben!

„Du kommst, Du willst den weiten Weg allein machen, Du willst mich keiner Gefahr aussetzen, die mich, den Confinirten, nothwendig treffen müsse, wenn ich Dich abholen wollte. Dir drohe in der gegenwärtigen ruhigern Zeit keine erdenkliche Gefahr. Ich habe mit meinen Lieben hier Alles überlegt; Du hast Recht. Ich könnte es vielleicht wagen. Dir entgegenzukommen, aber wenn ich entdeckt würde, so wäre mein Loos das Innere von Frankreich, vielleicht gar Cayenne, immer eine neue, langjährige, wahrscheinlich gar immerwährende Trennung von Dir. Du hast Recht; es wäre Vermessenheit, so viel, Alles, auf das Spiel zu setzen. So mußt Du denn allein kommen; und, o, meine liebe Marie, komm’ nur recht bald. Die Bäume knospen schon, die Luft ist schon warm und mild geworden; der Frühling kommt so schön heran. Mit seinem ersten sanften Wehen, mit seinem ersten fröhlichen Lauten ziehst Du bei uns ein.

„So schreibst Du auch, Du willst Deine Reise antreten, sobald Du diesen Brief erhältst. Thue das, aber reise vorsichtig; bewahre Deine theure Gesundheit. Ich meine ohnehin immer, es sei nicht Alles, wie es sein müsse, Du seiest nicht ganz so wohl, wie Du schreibst. Deine Schriftzüge sind so klar und fest wie je; dennoch, wenn ich sie betrachte, ist es mir, als rufe jeder Buchstabe mir zu: mich hat eine leidende Hand, ein bleiches Bild geschrieben. Und wäre es ein Wunder, wenn es anders wäre, nach allen Deinen Leiden, bei Deinem zarten Körper? O, laß recht, recht bald Dein schönes, frisches, blühendes Bild die Buchstaben und alle meine schwarzen Ahnungen Lügen strafen!

„Deine Reiseroute kennst Du. Bis Holzminden fährst Du mit der Post, welche des Nachts dort ankommt. Von heute über vierzehn Tage an – früher ist Dein Eintreffen nicht möglich – wird in dem dortigen Gasthofe fortwährend ein Zimmer für Dich bereit sein. Du wirst die Nacht dort ausruhen, ein Bote wird sogleich nach Deiner Ankunft hierher zum Gute abgehen, und am andern Morgen wird der Wagen bei Dir sein, Dich abzuholen. Wenn es Dir möglich ist, so sendest Du mir vor Deiner Abreise noch ein paar Zeilen.

„Und nun, meine liebe, meine theure, meine einzig geliebte Marie, lebe wohl. Lebe wohl, und möge der Himmel Dich behüten bis zu unserem baldigen, glücklichen Wiedersehen. Wiedersehen nach so langer, bitterer, schmerzvoller Trennung! Ich kann Dir nicht sagen, wie mir das Herz schlägt bei dem Gedanken des Wiedersehens. Gott im Himmel, behüte meine theure Marie, führe sie glücklich in meine Arme. Ich habe keinen andern Gedanken, kein anderes Gebet mehr. Lebe wohl bis zum Wiedersehen! Meine gute Mutter fügt noch einige Zeilen bei. Lebe wohl. Dein, ewig Dein Hermann.“

„Ewig,“ lispelten leise die Lippen der Sterbenden.

Sie hatte während des Lesens die Augen geschlossen, und dann ohne Bewegung gelegen. So hatte sie zugehört; oder hatte sie nicht mehr zugehört? Las die Freundin den Brief einer Leiche vor? Die geschlossenen Augen, das unbeweglich stille Gesicht, die halb geöffneten Lippen, die schneeweiße Wachsfarbe des Todes, die auf der Brust gefalteten Hände, Alles kündigte eine Leiche an.

„Ewig,“ lispelten die Lippen. Sie lebte noch.

„Lese ich auch das Andere?“ fragte die Freundin.

Die Sterbende wollte eine bejahende Bewegung machen. Sie war zu schwach. Die Freundin glaubte, die Lippen ein leises Ja lispeln zu hören und las weiter:

„Meine herzlich geliebte Tochter! Ich muß die Zeilen meines Hermann mit einigen Worten an seinen Engel begleiten. –“

Die Leserin mußte einhalten; draußen wurde leise an die Thür gepocht. Sie stand auf, um nachzusehen, wer da sei. Vorher warf sie einen Blick auf die Kranke; diese lag unverändert ruhig. Die Freundin öffnete fast unhörbar die Thür, trat hinaus, und zog sie eben so leise hinter sich zu.

Nach etwa einer halben Minute kehrte sie mit einem besorgten, ängstlichen, beinahe erschrockenen Gesichte zurück. Ihr erster Blick fiel wieder auf die Kranke. Diese lag noch völlig so, wie sie sie verlassen hatte. Aber lebte sie noch? Die Freundin beugte sich über sie, um sich zu überzeugen. Sie fühlte den noch eben bemerkbaren Hauch der sterbenden Lippen, und wurde ängstlicher. Sie kämpfte mit einem schweren Entschlusse. Ihr Auge ruhete traurig, mitleidig auf der Sterbenden. Sollte sie diese Ruhe stören, die Todesruhe, die letzten Augenblicke der so sanft, so selig hinüber Scheidenden? Und doch mußte sie es, und zwar sogleich. Es waren ja nur noch wenige Augenblicke ihr zugemessen.

„Liebe Marie,“ sagte sie sanft.

Die Kranke bewegte leise die Lippen, wie zum Zeichen, daß sie zuhöre.

„So eben,“ fuhr die Freundin fort, „ist hier eine Dame eingetroffen, die Sie kennt. Sie steht vor der Thür; darf sie eintreten?“

Die Kranke suchte eine Bewegung zu machen; ihre Anstrengung war vergebens.

„Die Fremde steht Ihnen nahe,“ sprach die Freundin vorsichtig weiter. „Sie wünscht so sehr, Sie zu sehen, und bittet dringend darum. Sie ist, so sagt sie, Ihre Schwester Antoinette.“

Die Sterbende riß wild die Augen auf; die gefalteten Hände fuhren auseinander.

Welche Kraft hat das starke Gefühl des Herzens! Es überwältigt selbst den Tod, es treibt ihn zurück, wenn auch nur auf wenige, kurze Momente. Oder trat er mitleidig, barmherzig zurück vor dem innigen, tiefen Herzensgefühle? Der Tod mitleidig, barmherzig? wie oft ist er es, und wie freundlich!

Die Sterbende starrte mit den großen, schon zum Tode geschlossenen Augen die Freundin wild, verwirrt an. Sie wollte sich aufrichten, aber dazu reichte die wiedergewonnene Kraft nicht aus. Sie konnte nur sprechen, wenngleich sehr schwach.

„Antoinette!“ sagte sie, und wie sie das Wort aussprach, nahm der wilde, verwirrende Blick ihres Auges den Ausdruck des Schreckes, beinahe des Entsetzens an. Allein schnell wurde er wieder milder, ruhiger. „Sie komme,“ sagte sie.

Die Freundin öffnete langsam, leise die Thür.

„Treten Sie ein,“ flüsterte sie hinaus, „aber sein Sie ruhig, ich beschwöre Sie.“

Die Fremde trat ein. Die Sterbende hörte sie, wandte das Auge nach ihr und sah sie.

Das Auge hatte seinen überirdischen, verklärten, seligen Glanz wiedergewonnen. Einen Augenblick lang, sls es die Fremde sah, kehrte der Ausdruck irdischen Schmerzes, hinein, dann aber war es wieder verklärt, selig. So ruhete es auf der Fremden. Diese hatte sich zusammengenommen. Es mußte dazu großer Kraft bedurft haben, gegenüber der Leidenschaftlichkeit dieser Frau. Sie hatte diese Kraft, aber ihre Thränen hatte sie nicht zurückhalten können. Mit diesen beugte sie sich sanft über die Kranke, und drückte einen weichen Kuß auf die beinahe schon erkalteten, von den erneuten Schlägen des Herzens noch einmal schwach erwärmten Lippen.

Es war ein sonderbarer Anblick, diese beiden Schwestern, die sich so plötzlich, so unerwartet trafen, an dem Todesbette der Einen, die sich, vielleicht nach vieljähriger Trennung, wiederfanden, um sofort für immer wieder von einander gerissen zu werden. Die Form, alle Züge des Gesichtes, einander zum Verwechseln ähnlich, nicht blos ähnlich, ununterscheidbar gleich, dieselben. Und doch, wie unähnlich, wie verschieden waren sie! Vielleicht nicht blos in diesem Augenblicke, vielleicht schon immer! Auch die Eingetretene, Antoinette, war blaß und abgemagert; auch ihre großen, schwarzen Augen hatten einen kranken, müden Blick. Aber hatte die Haut ihres Gesichtes je so wunderbar fein, klar und durchsichtig sein können, wie die der Sterbenden? Waren diese Augen jemals jener überirdischen, seligen Verklärung fähig gewesen? Hatte jemals das ganze Gesicht so unendlich still, erhaben, edel sein können? Nein!

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_018.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)