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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Diesmal antwortete der Mann: „Ich hoffe nicht.“

„Du fürchtest also?“

„Ich habe Feinde.“

„Du hast wieder etwas gemacht? Du hast es mir verhehlt?“

„Sei unbesorgt, man wird nichts gegen mich wagen. Ich weiß zu viel, und das weiß man.“

Unmittelbar vor der Thür draußen wurden Schritte hörbar. Die Frau setzte sich zu dem Kinde an das Bett; der Mann stellte sich vor einen an der Wand hängenden Kupferstich, die Schlacht von Austerlitz darstellend, und sah mit gleichgültiger Miene auf das Bild. Die Thür öffnete sich, und die Aufwärterin brachte das Frühstück herein. Sie stellte es auf den Tisch und trat dann in jener zutraulichen Weise, die man in den Dörfern und kleinen Landstädten nicht selten antrifft, zu der Dame an das Bett des Kindes. Sie sah mit unverstellter Freude das schlafende Kind an.

„Welch’ ein schönes Kindchen!“ rief sie. „Und wie es so ruhig schläft! Wie ein kleiner Engel.“

„Es hat Gottlob einen gesunden Schlaf,“ erwiederte die Dame.

„Ach,“ fuhr die Aufwärterin mit einem Seufzer fort. „da hinten im Hause liegt auch ein Engel, dem es aber nicht so gut geht. Sie wird es wohl nicht lange mehr machen.“

„Sie haben eine Kranke im Hause?“ fragte die Dame. „Ich hörte Sie schon vorhin darüber sprechen.“

„Mit dem Arzte, der gerade von ihr kam. Er hat keine Hoffnung mehr. Wir sind Alle recht traurig im ganzen Hause.“

„Die Kranke ist eine Angehörige des Hauses?“

„O nein, eine Fremde, die erst seit drei Tagen hier ist.“

„Eine Reisende?“

„Sie kam mit der Post an. Sie war unterwegs plötzlich sehr krank und elend geworden, so daß sie nicht weiter konnte und hier liegen bleiben mußte.“

„Doch nicht allein?“ fragte die Dame, die sich unwillkürlich für das Schicksal der Kranken zu interessiren schien.

„Ganz allein,“ antwortete die Aufwärterin. „Aber sie hat hier die beste Aufnahme und Pflege gefunden. Die Mamsell, die Tochter vom Hause, hat sich ihrer sogleich angenommen; sie weicht nicht mehr von ihrem Bette. Die arme kranke Dame ist auch so gut, und noch so jung und so schön. Aber, mein Gott –“

Die Aufwärterin brach auf einmal im Tone der höchsten Verwunderung ab, starrte die Dame an, mit der sie sprach, blickte vor sich nieder und starrte wieder die Dame an.

„Was ist Ihnen?“ fragte diese.

„O, nichts.“

„Es schielt Ihnen plötzlich etwas aufzufallen?“

„Ach, ich täuschte mich wohl; es war nichts. Und doch –“

„Nun?“

„Es kam mir auf einmal vor, als wenn die Kranke einige Aehnlichkeit mit Ihnen habe. Aber ich habe mich wohl geirrt; jetzt ist es nicht mehr so.“

Die Theilnahme der Dame schien sich doch gesteigert zu haben. „Jung ist die Fremde?“ fragte sie.

„Recht jung noch,“ antwortete die Aufwärterin. „Vielleicht kaum zwanzig Jahre alt. Und so schön!“

„Und sie kam allein?“

„Ganz allein.“

„Hatte sie eine weite Reise vor?“

„Sie soll weit hergekommen sein und wollte auch noch weit. Sie war schon krank abgereist. Unterwegs, in dem alten Postwagen und den kalten Nächten, die wir in der letzten Zeit hatten, hat sie sich erkältet; sie hat anfangs nicht darauf geachtet; es ist schlimmer mit ihr geworden, bis sie zuletzt hier nicht mehr weiter konnte. Der Arzt sagt, sie habe die galoppirende Auszehrung. Sie habe die Krankheit schon seit einiger Zeit in der Brust getragen; die Beschwerden der Reise, die Erkältung, und auch wohl frühere Leiden der armen Mamsell hätten die Krankheit so furchtbar stark und so auf einmal tödtlich gemacht. Nun muß sie hier so allein, so entfernt von allen ihren Anverwandten und Freunden sterben. Es ist wohl recht traurig.“

„Sehr traurig,“ wiederholte die Dame mit einem fast ängstlichen Blick auf ihr Kind, das so ruhig vor ihr auf dem Bette schlief. Beinahe wie mechanisch setzte sie die Frage hinzu: „Weiß man den Namen der Fremden?“

„O ja,“ antwortete die Aufwärterin. „Sie hat einen Paß bei sich, und heißt Mamsell Andreä.“

Die Dame fuhr mit einem lauten Schrei von ihrem Sitze auf. „Allmächtiger Gott!“ rief sie.

„Sie kennen sie?“ fragte die Erstere.

Der Herr, der bei dem Namen der Fremden sich plötzlich entfärbt, aber auch eben so schnell sich wieder gefaßt hatte, warf der Dame einen strengen, befehlenden Blick zu und sagte gleichzeitig in dem ruhigsten Tone seiner Stimme zu ihr:

„Wie kannst Du Dich bei dem Namen erschrecken? Er findet sich häufig. Ich denke, wir frühstücken, damit wir bald wieder aufbrechen können.“

Aber die Frau ließ sich weder durch die Worte noch durch den Blick beruhigen. „Woher kommt die Fremde?“ fragte sie die Aufwärterin.

„Das weiß ich nicht; ich habe nicht darauf geachtet.“

„Wissen Sie ihren Vornamen?“

„Marie Antoinette steht im Paß.“

„Um Gotteswillen! Und sie sieht mir ähnlich?“

„Gewiß, gewiß. Ich meine, wenn die arme Mamsell nicht so krank wäre, sie müßte Ihnen zum Verwechseln gleichen.“

„Sie ist es; es kann kein Zweifel sein. Es ist –“

„Antoinette!“ sagte befehlend und verweisend der Mann.

Aber die Frau war in immer heftigere Aufregung gerathen. „Es ist meine Schwester!“ rief sie. „Meine arme Schwester, Krank, elend, sterbend. Und allein! In der Fremde! Mich sendet der Himmel ihr zu.“

„Antoinette, wie kann eine bloße Vermuthung Dich so außer Dir bringen?“

„Ich muß zu ihr. Führen Sie mich zu ihr.“

„Du wirst Dich vorher genauer erkundigen,“ sagte der Mann laut. Leise aber setzte er hinzu: „Ich beschwöre Dich, Du wirst uns Alle unglücklich machen.“

Die Frau achtete auch auf seine Beschwörung nicht. „Eilen Sie,“ drängte sie die Aufwärterin. „Eilen Sie zu der Kranken. Fragen Sie, ob sie aus Würzburg komme. Und wenn sie von dort kommt –“

Der Mann warf ihr einen vernichtend drohenden Blick zu. Sie stutzte einen Augenblick, dann fuhr sie leidenschaftlich fort: „Und wenn sie von dort kommt, so sagen Sie ihr, daß ihre Schwester hier sei, Antoinette Andreä. Eilen Sie. Kehren Sie schnell zurück. – Oder nein, ich begleite Sie sofort. O, diese Unruhe ist tödtlich!“

Sie wollte mit der Aufwärterin das Zimmer verlassen. Der Mann hielt sie gewaltsam zurück.

„Antoinette,“ flüsterte er ihr zu, „weißt Du, daß die Gensd’armen mir auf den Fersen folgen?“

„Fliehe,“ erwiederte die Frau; „aber laß mich, ich muß zu ihr!“

„Du willst mich verlassen?“

„Ich kann meine sterbende Schwester nicht allein lassen.“

„Du wolltest auch Dein Kind verlassen?“

„Mein Kind?“ rief die Frau.

Der Gedanke, auch ihr Kind verlassen zu müssen, schien sie plötzlich an den Boden zu fesseln. „Nein, nein, mein Kind bleibt bei mir.“

„Aber ich –?“

Der Mann sprach die Worte in demselben Tone des Vorwurfs, in welchem er ihr vorhin ihren Mangel an Liebe vorgehalten hatte. Auf einmal wurde die Frau ruhiger, ihr Blick klarer.

„Warten Sie draußen auf mich, Jungfer,“ sagte sie zu der Aufwärterin. „Ich folge Ihnen sogleich.“

Die Aufwärterin verließ das Zimmer. Die Frau richtete sich in fast gebieterischer Stellung vor dem Manne auf.

„Gregoire,“ sagte sie, äußerlich ruhig, beinahe kalt, „Du hast mich elend gemacht, mich und das arme Kind dort. Ich bringe Dir ein Opfer, daß ich noch bei Dir bleibe. Willst Du Unmenschliches von mir verlangen, so zerreiße ich alle Bande zwischen Dir und mir.“

„Ah,“ höhnte der Mann, „Du hast die Schwester wiedergefunden! Aber weißt Du, ob sie Dich aufnehmen wird? Doch was frage ich? Sie liegt im Sterben. Du willst nur so en passant eine Erbschaft in Besitz nehmen.“

Die Frau sah ihn verächtlich an. Auf einmal aber verlor sich auch der Hohn des Mannes. Es schien plötzlich ein Gedanke in ihm aufzusteigen. In seinen Augen zeigte sich ein vorüberfliegender Glanz; aber es war ein widerwärtiger Glanz.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_003.jpg&oldid=- (Version vom 5.7.2019)