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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

mitten im Kriege ihre Löhnung und ihre Briefe eben so regelmäßig erhielten, als wenn sie im tiefsten Frieden mitten in den numerirten Häusern von Paris gewohnt hätten. Daß an sie theils baar, theils in Schatznoten ausgezahlte Geld belief sich auf 285000000 Francs. Und dies ist vielleicht ein kleiner Ausgabeposten im Vergleich zu den Kosten der Anschaffung und des Transports von Lebens- und Todesmitteln.

Elektro-Telegraphie und Druckerei traten als ganz neue Posten in der Kriegsrechnung auf und deuten auf eine neue Epoche in der nobeln Kunst der Kriegführung hin. Die Franzosen wurden sehr fleißig vermittelst der alten Semaphoren (beweglichen hölzernen Telegraphen mit Signalarmen) und elektrischer Telegraphie kommandirt. Sichtbare Zeichen und elektrische Blitze liefen aus dem Hauptquartiere nach allen Armen und Flügeln der Armee. Außerdem hatten die Engländer einen elektrischen Telegraphen durch’s Meer von Balaklava nach Varna gelegt und die Franzosen denselben über Land (Varna, Schumla, Rustschuk, Buckarest) mit den großen europäischen Telegraphennetzen verbunden.

Außer einer lithographischen Presse beschäftigte General Canrobert noch eine ordentliche Druckerei. Die Guttenberg’schen Truppen wurden somit unseres Wissens zum ersten Male unmittelbar zwischen Krieg und Schlachten beschäftigt. Keine besondere Ehre für sie oder vielmehr für uns, die wir es mit 400jährigen Exercitien derselben noch nicht so weit gebracht haben, daß sich der barbarische Mars mit seiner Todtschlägerei gar nicht mehr hervorwagen könnte.

Für den Transport über’s Wasser beschäftigten die Franzosen stets 132 Schiffe von der Staatsmarine, welche mit 905 Reisen 270000 Mann, 4300 Pferde und 116000 Tonnen Material beförderten. Dazu kamen als Transportmittel 8 englische Kriegs- und 42 andere gemiethete Schiffe, dazu außerdem 1264 Kauffahrteifahrzeuge aller Art mit 66 Dampfschiffen und 22 Schnellsegelklippers. Alle zusammen beförderten während der zwei Kriegsjahre 550000 Mann, 50000 Pferde und 15400000 Centner Material hin und her.

Das sind die Hauptsachen einer einzigen Kriegsrechnung. Die englische ist bereits auf mehr als das Doppelte im Geldpunkte veranschlagt worden. Von der russischen, türkischen und sardinischen wissen wir noch gar nichts. Erstere muß auch mindestens das Doppelte der französischen betragen. Nehmen wir daher nur die direkten Gelder, an die Soldaten ausgezahlt als die Hauptkosten, als den großen Preis des Krieges, also Russen-, Franzosen-, Engländer-, Türken- und Sardinier- oder fünfmal 285000000 Francs, so kommt das runde Sümmchen von 1425000000 Franken heraus, wofür wir 400 Millionen Thaler annehmen wollen.

Das ist vielleicht blos die Hälfte der wirklichen, direkten Kosten, wobei wir 700000 vernichtete, jugendliche, starke Menschenleben und das mit ihnen todtgeschlagene Produktionskapital und dessen Zinsen gar nicht rechnen.

Für diesen Preis ist zwar Sebastopol gefallen, aber Rußland hat dafür Festungen in ganz Europa gewonnen. Das ist kein Geschäft. Um recht prosaisch zu schließen, fragen wir: was hätten Nicht-Diplomaten, gewöhnliche producirende Unterthanen, Fabrikanten, Bürger, Bauern, Handwerker, Künstler mit diesem Kapitale für Leben und für Freude in der Welt geschaffen?

Und hat denn nun wenigstens Europa ehrenvollen, dauernden Frieden? Neue Pariser Konferenz, antworte, wenn du es nicht wieder vorziehst, etwas zu sagen, um deine Gedanken zu verbergen!




Die Nachtigall als Künstlerin.

Der berühmte Pré aux Clers, heute Markt St. Germain, ist bekanntlich des Sonntags der Vogelmarkt von Paris. Es ist ein in vielfacher Beziehung merkwürdiger Ort, er ist eines Theils eine große, immer frisch erneuerte Menagerie, ein bewegliches, amüsantes Museum der französischen Ornithologie.

Andererseits erinnert eine solche Preisbietung lebender Wesen, Gefangener, von denen ein großer Theil seine Gefangenschaft lebhaft empfindet, Sklaven, die der Kaufmann zeigt, verkauft, mit mehr oder minder Geschicklichkeit geltend zu machen weiß, indirekt an die Sklavenmärkte des Orients, wo menschliche lebendige Wesen verhandelt werden. Obwohl die geflügelten Sklaven unsere Sprache nicht verstehen, so drücken sie das Bewußtsein ihrer Sklaverei doch nicht minder deutlich aus: manche, die schon so geboren sind, resignirt, andere düster und stumm, Alle aber, indem sie von der Freiheit träumen. Einige scheinen den Vorübergehenden anhalten, nichts als einen guten Herrn verlangen zu wollen. Wie oft sieht man einen klugen Hänfling, einen liebenswürdigen Rothbart uns traurig mit einem unzweideutigen Blicke ansehen, der uns sagt: „Kaufe mich!“

An einem Sonntage dieses Sommers machten wir diesem Markte einen Besuch, den ich nie vergessen werde; es war der Markt gerade nicht reich versehen und auch nicht sehr vollständig, denn die Zeit der Maußer und des Schweigens hatte begonnen. Nichtsdestoweniger hatten wir Gelegenheit, an der naiven Haltung einiger Individuen großes Interesse zu nehmen. Der Gesang, das volle Gefieder, diese beiden schönsten Attribute des Vogels, nehmen gewöhnlich überwiegend in Anspruch und verhindern uns, meist, ihre lebhafte, originelle Pantomimik zu beobachten. Ein einzelner Vogel, der Spottvogel Amerika’s, hat das Genie eines Schauspielers und begleitet alle seine Gesänge mit genau dem Charakter angemessenen, meist sehr ironischen Geberden. Unsere Vögel besitzen diese Kunst nicht, aber ohne Kunst und ohne es zu wissen, drücken sie durch bedeutsame Bewegungen, die häufig sehr pathetisch sind, aus, was ihr Gemüth bewegt.

An jenem Tage war die Königin des Marktes eine Grasmücke mit schwarzem Kopfe, ein Künstlervogel von großem Werthe; sie stand allein auf dem Ausstand über all’ den anderen Käfigen wie ein Kleinod ohne Gleichen. Sie flatterte leicht und elegant, Alles war Anmuth an ihr. In der Gefangenschaft hatte sie eine lange, sorgfältige Erziehung genossen, schien nichts zu vermissen und machte auf das Gemüth nur angenehme, glückliche Eindrücke. Es war sichtlich ein so liebliches Wesen, so harmonisch in Bewegung wie Gesang, daß, als ich sie sich bewegen sah, ich sie singen zu hören glaubte. –

Tiefer, viel tiefer befand sich in einem engen Käfig ein etwas größerer Vogel, der, unmenschlich eingezwängt, einen bizarren ganz entgegengesetzten Eindruck machte. Es war ein Buchfink und der erste, den ich blind gesehen; ein äußerst peinlicher Anblick. Man muß eine alles Gleichklanges baare Natur, eine Barbarenseele besitzen, um mit solchem Anblicke den Gesang dieses armen Opfers zu erkaufen. Seine unruhige gequälte Haltung machte mir seinen Gesang schmerzlich. Und das Schlimmste dabei war eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Schulterzucken und der Haltung des Kopfes, welche häufig menschliche Kurzsichtige oder Blindgewordene annehmen. Der Blindgeborene hält sich niemals so. Mit gewaltsamem, aber unausgesetztem Streben, das eine Gewohnheit geworden, hielt er den Kopf nach rechts gewendet und suchte mit seinen leeren Augen das Licht. Der Hals verlor sich fast in den Schultern und blies sich auf, als wollte er dadurch mehr Kraft gewinnen; er war etwas gewunden und die Schultern wie buckelig. Der unglückliche Virtuose, der nichtsdestoweniger sang, wäre in seiner verwachsenen Mißgestalt ein niedriges Bild der Häßlichkeit eines Sklavenkünstlers gewesen, wenn ihn nicht das unaufhörliche Suchen nach Licht geadelt hätte; man ahnte, daß sein Gesang der unsichtbaren Sonne galt, die ihm noch im Gedächtniß war. –

Wenig empfänglich gegen Erziehung wiederholt dieser Vogel mit metallheller Stimme den Gesang seines Geburtswaldes und zwar mit dem eigenthümlichen Accent des Bezirks, wo er geboren ist; soviel verschiedene Gegenden, soviel Finkendialekte gibt es. Er bleibt sich immer ganz treu; er singt nur seine Wiege, und zwar aus derselben Tonart, aber mit einem glühenden Eifer, mit außerordentlicher Leidenschaft. Einem Nebenbuhler gegenübergestellt wird er achthundert Mal hintereinander dieselbe Weise singen; bisweilen stirbt er daran.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 710. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_710.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)