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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

und weckte das arme Mädchen aus ihrem unthätigen Nachsinnen. Tief aufseufzend machte sie Anstalt hinaufzugehen, wo die traurige Nothwendigkeit ihrer wartete, ein krampfhaft aufgeregtes, halb wahnsinniges Weib zu beruhigen.

Wer kann es ihr verargen, daß sie langsam und widerwillig jeden Schritt zählte und sich nicht beeilte, hinaufzukommen, daß sie mit gleichen Empfindungen die Thür aufstieß, die nur angelehnt war. Aber, welch’ ein Anblick wartete ihrer! Leopoldine, ausgestreckt auf der Erde liegend, überschwemmt von Blut, das ihr vom Halse herniederrieselte, mit dem Tode ringend, schon starr und kalt und ohne Bewußtsein –.

Ohne einen Laut des Schreckens und rasch übersehend, was noth that, stürzte Theodore zu der Unglücklichen nieder und preßte ein Taschentuch auf die Wunde am Halse, der noch immer unaufhaltsam das klare rothe Blut entrieselte. Dann erst rief sie nach Hülfe und blieb in derselben Stellung eine volle Stunde, bis der herbeigeholte Arzt sie erlöste und die Ader kunstgerecht verband, welche sie durch ihre rasch ergriffene Maßregel wenigstens verstopft hatte. Aber das Leben Leopoldinens schwebte dennoch in der höchsten Gefahr, sie hatte sich verblutet, bevor Theodore zu ihrer Hülfe herangekommen war.

Was war vorgefallen? Wer war der Thäter dieses Mordes? Der Doktor war der Erste, der diese Fragen aufwarf und mit Späherblicken nach dem Instrumente forschte, mit welchem der Schnitt am Halse, unbestreitbar in der nicht ganz gelungenen Absicht denselben zu durchschneiden, vollführt war.

Es mußte nach seiner Ansicht ein sehr scharfes und spitziges Messer oder ein Dolch gewesen sein. Zuerst suchte man vergeblich, dann aber entdeckte man mit Erstaunen in einem sehr zierlichen kleinen Messerchen, das blutgetränkt in der Spitzengarnirung von Leopoldinens Kleide hing, die Waffe, die man sich groß und gefährlich gedacht hatte. „Richard v. Moorhagen“ stand in dem silbernen Griffe eingravirt. Der Arzt wickelte es behutsam ein und steckte es zu sich. Sein Gesicht verrieth, was er dachte und Theodore zitterte wie vom Fieber geschüttelt, bei der Erinnerung an die Abschiedsworte des unseligen Mannes.

Sie richtete einige bittende Worte um Schonung an den Doktor, allein dieser begegnete ihr kurz und unfreundlich.

„Es ist hier ein Mord beabsichtigt, das unterliegt gar keinem Zweifel, und ich kenne meine Pflicht,“ sagte er Abschied nehmend. „Die verwundete Dame bedarf der sorgsamsten Pflege; ich mache Sie, Fräulein Dora, dafür verantwortlich; morgen früh bin ich wieder hier.“

Theodore setzte sich geduldig an das Lager Leopoldinens, um sie zu bewachen, der Arzt stieg in den Wagen und fuhr durch die dunkle Nacht heim. In der Finsterniß pflegen alle Gespenster aufzustehen und alle ungewöhnlichen Ereignisse eine grausige Färbung anzunehmen.

Der Doktor Bendewitz war Kreisphysikus und gehörte als solcher in die Kategorie derjenigen Aerzte, die in jedem Zufalle ein Verbrechen wittern. Hier, in dem Vorfalle auf dem Landhause des Hauptmann von Moorhagen hatte er freilich Veranlassung, nach einem Mörder umzuschauen, da gar keine andere Möglichkeit bei der vorgefundenen Wunde der jungen Dame vorlag, allein er begnügte sich nicht mit dem Thatbestande, sondern meditirte und kombinirte so lange, bis er eine ganz haltbare Geschichte zusammenkalkulirt hatte und ein brennendes Verlangen fühlte, diese interessanten Forschungen sogleich an die rechte Thür zu bringen. Er befahl seinem Kutscher vor dem Hause des Criminalrath Müller zu halten, stieg dort aus und verfügte sich in das Arbeitszimmer desselben, wo er Licht bemerkt hatte.

Verwundert blickte der würdige Vertreter der Criminaljustiz von seinem Aktenstoße auf und rief ihm entgegen:

„Was führt Sie denn so spät Abends noch zu mir, Doktor? Doch gewiß irgend ein Erhängter oder ein Ueberfahrener –?“

Quod non – hochwohlgeborener Herr, diesmal eine Erstochene –“

„Die aber noch lebt und hoffentlich noch lange leben wird?“ examinirte der Criminalrath humoristisch weiter, denn er kannte die Sucht des Doktors, Alles, was in dieses Fach schlug, zu übertreiben.

„Das gebe Gott, sonst möchten Sie, mein Hochwohlgeborner, in die Verlegenheit kommen, ihrem guten Freunde, dem Herrn Richard von Moorhagen Zeter zu schreien und den Stab zu brechen,“ berichtete der Doktor gleichmüthig.

Der Rath fuhr etwas frappirt vom Stuhle auf. „Machen Sie keinen Scherz – was gibt es denn?“

Der Doktor setzte sich zurecht, nahm eine Dose hervor, bot dem Rathe eine Prise, nahm selbst eine und begann in langsam schnarrendem Tone großer Wichtigthuerei ein Referat des eben Erlebten im Hause des Hauptmann von Moorhagen und schloß dann: „Der Grund dieses Attentates ist leicht zu begreifen. Die Leutchen liegen im Scheidungsprozesse, Frau Poldchen zeigt sich sehr capriziös im Punkte ihres Eingebrachten, sie verlangt Eigenthumsrechte an alle den Sachen, die durch ihr Vermögen restaurirt sind. Nun ist’s klar, Herr Richard ist hinausgeritten, um bessere Bedingungen zu erzwingen und hat dann in der Wuth den Mund stumm zu machen gesucht, der ihm widerwillig war.“

Der Rath schüttelte zweifelnd den Kopf. „Was hätte ihm das geholfen?“ warf er ein. „Ist es denn unumstößlich gewiß, daß von Moorhagen der Thäter gewesen ist?“

Der Doktor zog das Messer hervor, welches noch vom Blute klebrig war. „Dies Dokument wird wohl hinreichen,“ sprach er. „Der Mörder hat seine Karte zurückgelassen im Busentuche der Gemordeten –“

„Sie ist also wirklich erheblich verwundet?“ forschte der Rath bedenklich das Messer betrachtend.

„Ganz erheblich, ihr Leben hängt an einem seidenen Faden, eine halbe Stunde mit geöffneten Halsadern liegen, reicht schon aus, um das Leben in Gefahr zu bringen. Das Bewußtsein ist der Dame zwar auf einen Moment wiedergekehrt, allein, als ich wegfuhr, lag sie wieder unbeweglich, wie eine Todte.“ Er erhob sich, um zu gehen. „Morgen früh mit dem Tagesgrauen will ich hinaus, um zu sehen, ob sie noch lebt.“

Der Rath fuhr aus seinem Nachdenken auf. „Kann ich mit Ihnen fahren, Doktor?“ fragte er hastig.

„Wird consentirt unter der Bedingung, daß meine Patientin, im Falle sie noch Athem in sich hat, von hochdero Besuch und Inquisition verschont bleibe,“ entgegnete der Doktor und fügte parodirend hinzu, indem er dem Rathe Abschied nehmend die Hand schüttelte: „Großinquisitor, ich habe das Meinige gethan; thun Sie das Ihre!“ Er ging stolz im Bewußtsein, wieder einem Verbrechen auf die Spur gekommen zu sein.

Der Criminalrath versank nach seiner Entfernung in ein unbehagliches Sinnen. Die Möglichkeit eines Verbrechens lag vor, aber Richard von Moorhagen sollte bis zum Mörder hinabgesunken sein pekuniärer Verhältnisse wegen? „Nein, tausend Mal Nein!“ sagte der Beamte ganz laut. Was sollte er thun? Seine Pflicht drängte ihn zu schnellen Maßregeln. „Auf was für Irrwege verfällt das menschliche Gemüth, wenn es sich bis zur äußersten Grenze gequält fühlt! Es könnte doch sein! Wir sind in unserer moralischen und physischen Natur unergründliche Räthsel,“ murmelte er. „Es könnte sein und die Verantwortung fiele dann schwer auf den lässigen Beamten.“ Er sprang auf, warf seinen Schlafrock ab, fuhr in einen andern Rock, ergriff Hut und Stock und befand sich auf der Straße, bevor er nur den Gedanken ganz ausgedacht hatte. Er schlug den Weg nach dem Hause von Moorhagen’s ein. Es war schon spät. Die meisten Bürger ruhten schon friedlich im Arme des Schlafes, nur einzelne Liebespärchen standen noch kosend in den Hausthüren und freuten sich der lauen Sommernacht. Auch der Diener von Moorhagen’s stand in der Thür, sein Liebchen, die hübsche Tochter seiner Wirthin, im Arme, als der Criminalrath hastig auf diese Thür zuschritt und das Mädchen damit verjagte. Friedrich wendete sich, ob dieser Störung sehr böse, um, machte jedoch eine respektvolle Verbeugung, als er den gefürchteten Criminalbeamten, der ihn auch schon in den Händen gehabt hatte, erblickte. Er begleitete den Herrn höflich hinauf und bat oben um die Erlaubniß, nachsehen zu dürfen, ob sein Herr auch noch nicht zu Bett liege.

Richard lag auf dem Sopha und schlief: Seine Träume schienen nicht freudig zu sein. Schwer hob sich seine Brust, die Lippen zuckten, die Fäuste ballten sich –. Friedrich berührte ihn sacht.

Wild fuhr der junge Mann in die Höhe und warf dir Blicke suchend umher. „Was ist’s? Was willst Du?“ fuhr er den Diener an.

„Gnädiger Herr, draußen ist –“

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