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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Der Taubenthurm.
Eine Novelle aus der Criminalpraxis.

In einem Dorfe, nahe bei einer Provinzialhauptstadt, liegt ein Landhaus von auffallend hübschem und behaglichem Aussehen.

Es wurde zur Zeit, wo unsere Erzählung spielt, von einem alten, würdigen Ehepaare, dem invaliden Hauptmann von Moorhagen und seiner Gattin bewohnt. Eine Pflegetochter, Theodore Stillke genannt, theilte diese Einsamkeit, und die Gemüthsart dieser drei Menschen war von der Beschaffenheit, daß sie mit einander eine Art Himmelsruhe zu genießen im Stande schienen.

Die Erde mit ihren Leiden und Plagen duldet nur dergleichen Himmelsfreuden nicht immer. Besonders Theodore, ein äußerlich ruhiges, aber innerlich leicht bewegtes und tief fühlendes Mädchen, wurde mannigfach vom Schicksale heimgesucht, um die Geisteskraft zu bethätigen, die nothwendig zum Kampfe mit irdischen Heimsuchungen ist. Ihre Pflegeeltern waren schon in das Stadium des Alters getreten, wo des Lebens Harm die Menschenbrust nur oberflächlich berührt, und sie saßen Beide an einem Juniabende, im Glanze der untergehenden Sonne, mit so behäbigem, zufriedenem Wesen unter den schützenden Marquisen eines Gartenzeltes, daß sie ein richtiges Bild des glückseligsten Alters abgaben.

Vor ihnen stand ein Tischchen mit einem feinen Abendbrote servirt, seitwärts sah man ein zweites Tischchen mit dem vollständigen Comfort eines Theetisches, woran Theodore beschäftigt war den Thee zu bereiten.

Aber noch eine vierte Gestalt müssen wir in’s Auge fassen, die nur von Zeit zu Zeit sichtbar wurde, wenn sie aus einem der schönen Bosquetwege nach dem andern hinüber wandelte. Es war Leopoldine von Moorhagen, die Gattin eines Neffen, die seit zwei Tagen, zum Erstaunen der Landhausbewohner, zum Besuche hier weilte. Jetzt hatte sie die friedliche Gesellschaft nach der ersten Tasse Thee verlassen, und ging mit einem Buche in der Hand in dem duftigen Abendgolde des sinkenden Tages spazieren. Dem alten Hauptmann schien die lesend spazierende Dame wenig Sympathie einzuflößen. Jedesmal, wenn sie sichtbar wurde, streifte ein spöttischer Blick ihre Gestalt und das Lächeln, womit er dann der Gattin Augen suchte, verrieth das Einverständniß mit dieser.

„Was lieset sie denn?“ fragte die alte Dame ihre Pflegetochter, die ihr eben die letzte Tasse reichte und die Zuckerdose näher rückte.

„Gallerie berühmter Frauen,“ entgegnete Theodore lachend.

„A–h! Sie rechnet sich sicherlich zu dieser Sorte!“ spottete der alte Herr.

In diesem Momente erschien Frau Poldine, wie man sie zu nennen pflegte, am Eingange des Bosquets, schauete einige Minuten auf die Gruppe und rief, als das Theegeschäft beendet zu sein schien, mit ziemlich heftigem Tone den Namen des jungen Mädchens. Theodore wandte sich zu ihr, blieb aber stehen. Frau Poldine winkte.

„Kommen Sie her, Dora!“ sprach sie im Herrschertone.

Als Dora dessen ungeachtet zögerte, und die Bedienung ihrer Pflegeeltern für wichtiger zu halten schien, da sagte die alte Dame beschwichtigend: „Geh’ nur, mein Kind – wir sind fertig. Geh’, damit wir keine Scene erleben.“

„Wie kann man sich so lange mit dem elenden Geschäft des Theetrinkens aufhalten!“ rief Frau Poldine entschieden verächtlich dem sich schnell nähernden Mädchen zu. „Ich habe mit Ihnen zu sprechen, Dora!“

Dora’s Schweigen, denn sie hatte jedenfalls eine neugierige und theilnehmende Frage erwartet, verstimmte und reizte die junge Dame. Ihre Mißlaune klang herbe wieder in dem Tone, womit sie fortfuhr: „Euch hier, in dem Paradiese des Eises und des Schnees, scheint nichts in Verwunderung und Erstaunen bringen zu können. Es ist Euch wohl kaum eingefallen, darüber nachzudenken, was mich zu einer Zeit, wo sich unsere verwandtschaftlichen Bande zu lösen und zu zerreißen schienen, hierher geführt hat?“

Diese Frage verdiente eine Antwort. Dora maß die junge Frau, welche so übermüthig ihr Urtheil herausforderte, mit lächelnden Blicken, ehe sie antwortete: „Sie irren, Frau Poldine! Wir haben uns schon den Kopf darüber zerbrochen, und haben täglich irgend einer Explosion Ihrer extravaganten Laune entgegengesehen.“ Das lebhafte Mienenspiel Dora’s zeigte momentan eine große Neigung zu einem Spottlächeln, allein sie verbarg es schnell.

„Aber Sie haben nichts errathen?“ fragte Frau Poldine.

„Ich habe mir keine Mühe gegeben – die Lösungen Ihrer Launen kommen von selbst und früh genug.“

„Viel Geduld und wenig Neugier!“ warf Frau Poldine ein. „Die Lösung wird Sie diesmal nicht erfreuen.“ – Das Mädchen dachte daran, daß zu einer solchen Voraussetzung gar kein Anlaß vorläge. – „Sie haben meiner Verbindung mit Richard von Moorhagen niemals das Wort geredet –“

„Nein, Gnädige! Nein!“ unterbrach Dora sie mit tiefem Ernste. „Niemals, gottlob niemals, habe ich zu dieser Ehe gerathen!“

„Weil Sie selbst Richard liebten. Ich weiß –“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 677. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_677.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2017)