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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

deren Wesen eben nur in einer andauernden Uebung alles Edlen, Reinen und Vortrefflichen beruht.

Der Preise sind im Ganzen sechzehn; einer von 4000 Francs, einer von 3000, zwei von 2000, drei von 1000 und zehn von 500; welche dreizehn letzteren „Medaillen“ genannt werden. Die jährlich vertheilte Summe beträgt also im Ganzen 19,000 Francs oder 5000 Thaler.

Die Geringfügigkeit der einzelnen Preise, verbunden mit der Vorschrift, nach welcher sie eben nicht vereinzelten Großthaten, sondern nur einer fortgesetzten, ausgezeichnet edlen Handlungsweise zugesprochen werden, erledigt schon vollständig jenes erste Bedenken, als könne sich niedere Gewinnsucht dadurch irgendwie zu einer heuchlerischen Spekulation aufgemuntert fühlen. Könnte es doch gelingen, die Menschen durch die Aussicht auf eine etwaige Belohnung von höchstens 1000 Thalern zu einem tugendhaften, aufopfernden Lebenswandel zu bekehren! Es ließe sich schon allein im Interesse der Gesellschaft gar keine lohnendere Verwendung des Geldes denken, und es wäre dann wenigstens nicht mehr der „Mammon, der in’s Verderben führt.“ Auch ist wohl zu bemerken, daß es sich hier durchaus nicht um eine, oft nur erheuchelte „Frömmigkeit,“ sondern um wirkliche Thaten handelt, und daß der Baron seine Stiftung deshalb nicht irgend einer Kirche, die Preisvertheilung nicht der Geistlichkeit übertragen hat, sondern einer rein weltlichen Körperschaft von Gelehrten, Philosophen und Staatsmännern. Da nun diese Zeichen nur zur Anerkennung echten, unzweifelhaften Werthes dienen, so versteht es sich wohl von selbst, daß Diejenigen, welchen sie zugesprochen werden, sich nicht selbst darum beworben haben können. Ein solcher Fall ist nie vorgekommen und gar nicht denkbar. Vielmehr werden diese Edlen, die in echter Demuth ihrer eigenen Erhabenheit sich völlig unbewußt sind, meist zu ihrer größten Bestürzung durch die Aufmerksamkeit der Akademie überrascht, bis zu welcher der Ruf ihres stillen und segensreichen Waltens gedrungen war, und nicht selten haben sie mit achtungsvoller Entschiedenheit die ihnen zugedachte Auszeichnung zurückgewiesen. Was nun durch die öffentliche Vertheilung solcher Preise, die man im Stillen als Unterstützungen würdiger und bedürftiger Personen wohl gelten ließe, bezweckt werden soll? Nun, doch wohl die Förderung der Tugend, aber nur auf ganz andere Weise, als es anfangs den Schein hatte. Nicht als Sporn oder Strebziel sollen diese Preise dienen, sondern ein, an sich selbst zwar gleichgültiges, nebenbei aber doch nicht selten wohlthätiges Mittel sind sie, durch welches das Gute, welches ihre Empfänger bisher nur im Verborgenen geübt hatten, nun auch in den weitesten Kreisen zu einem segensvollen Wirken gebracht wird. Und daß sie dies gar wohl vermögen, wird Jedem durch die nachfolgenden, einer früheren Preisvertheilung zu Grunde liegenden Thatsachen an sich selbst fühlbar werden; oder hätte die Barmherzigkeit jenes Samaritaners so gar nichts weiter gewirkt, als nur die Rettung jenes Einen, unter die Räuber Gefallenen?

Unter mehr als hundert geeigneten Fällen, die in den letzten sechs Monaten vor jener Preisvertheilung zur Kenntniß der Akademie gekommen waren, wählte sie nebst mehreren anderen die folgenden als die würdigsten aus, und ist es nicht ohne Interesse für uns, daß zwei der so Ausgezeichneten, obwohl von Geburt Franzosen, doch deutscher Abstammung sind.

Den ersten Preis von 4000 Francs erhielt ein alter Soldat und Schuhmacher, Namens Miller. Dieser arme und großherzige Mann hatte der Reihe nach fünf ganz fremde Kinder adoptirt, die er und sein braves Weib ohne alle Unterstützung mit der zärtlichsten Sorgfalt auferzogen. Das erste dieser Kinder war eine Waise, die Miller während des schreckenvollen russischen Feldzuges im Schnee fand. Das war seine Kriegsbeute, die er als den kostbarsten Schatz durch all’ die folgenden blutigen Ereignisse treu bewahrte und sicher in die Heimat brachte. Eine so vortreffliche Erziehung gab er seinem Schneesohne, daß dieser jetzt kommandirender Stabsoffizier in der französischen Armee ist. Ein zweites dieser angenommenen Kinder Miller’s ist Landpfarrer; ein drittes ist anständig als Schustermeister etablirt, und ein viertes dient eben seine Conscriptionsjahre in der Armee ab. Das fünfte Kind ist ein Mädchen, das von ihrem Vater, einem brutalen und liederlichen Soldaten, in frühester Jugend verlassen und durch Miller und sein Weib dem Laster und Elend entrissen wurde. Nach mehreren Jahren kam der unnatürliche Vater zurück, und die Liebe der Pflegeeltern für sein Kind ausbeutend, nahm er es ihnen und verlangte eine große Summe für seine Zurückstellung. Miller war arm, allein er brachte freudig die schwersten Opfer, um seine angenommene Tochter wiederzuerlangen, die sich solcher Liebe werth gezeigt hat und jetzt die treue Pflegerin des ehrwürdigen, hochbetagten Paares ist. Schon seit Jahren arbeiten die Alten daran, dem Mädchen eine gesicherte Existenz zu gründen, und die 4000 Francs, welche Miller von der Akademie empfing, werden sicher dies Ziel wesentlich gefördert haben.

Es liegt in diesem dunkeln aber so wohlthätigen Leben des fleißigen alten Soltaten ein tiefer und mehr als gewöhnlicher Reiz. Indem er fünf hülflose Kinder nicht nur vor Mangel und Elend, sondern auch vor Unwissenheit und Laster rettete, sie unter den größten Schwierigkeiten auferzog und durch unermüdliche Ausdauer so weit brachte, daß sie die von ihnen behauptete ehrenvolle und nützliche Stellung im Leben einnehmen konnten, that er mehr, als nur ein gutes und menschenfreundliches Werk, er verfuhr, – wie die Franzosen sehr richtig unterscheiden – mit weiser Tugend, mit einer Tugend, die, hinausblickend über die Nächstliegenden Rücksichten, mehr noch das allgemeine Wohl im Auge hält, als das blos individuelle. Diese Betrachtung war es denn auch, was die Akademie vornehmlich bewog, Miller den ersten Preis zuzuerkennen. Wer aber möchte wohl dem Verdachte Raum geben, daß dieser edle Mann, der in seiner entfernten Provinz vielleicht nie von der Akademie und ihren Monthyon-Preisen gehört, auch nur entfernt an diese armselige Summe dachte, als er mit treuer Ausdauer alle Kräfte seines Daseins an die Durchführung seiner schönen, selbsterwählten Aufgabe setzte?

Obwohl wir, bei all’ unserer Sympathie für die französischen Arbeiterklassen, keineswegs für sie ausschließlich Gefühle und Tugenden beanspruchen wollen, die so allgemein und so weitverbreitet sind, als der Mensch und die menschliche Natur, so müssen wir doch bei der Betrachtung all’ der herrlichen Beispiele christlicher Liebe und Selbstverleugnung, die jedes Jahr bei Gelegenheit der Monthyon-Preise kund werden, die tiefe Wahrheit der von Michelet in seinem Buche „Das Volk“ ausgesprochenen Thatsache anerkennnen, daß gerade die ärmsten Glieder der Gesellschaft jederzeit am bereitetsten sind, gleich jener alten Wittwe, ihr Alles hinzuopfern, und zwar nicht nur, wo Pflicht und Neigung sie dazu auffordern, sondern oft für den ersten unglücklichen Fremden, der ihren Pfad durchkreuzt. Ist dies vielleicht, weil die Armen am besten wissen was es heißt, zu leiden? Ist es, weil sie selbst den Kelch bis auf die bitteren Hefen geleert, daß sie so gut verstehen, mit dem Betrübten zu trauern und mit dem Weinenden zu weinen?

Zu diesen milden Seelen gehörte auch Anne Billard, eine alte Näherin, der die Akademie eine Medaille von 500 Francs zusprach, und die so überaus arm war, daß sie oft viele Tage nach einander nur von Gemüseabfall lebte, den sie in der Straße aufklaubte, oder von so schimmeligem, verdorbenem Brote, daß der elendeste Gefangene es weggeworfen haben würde. Und dennoch fand Anne Billard selbst in diesem Abgrunde der Noth und des Elenden noch die Möglichkeit, mehr wahre Wohlthätigkeit zu üben, als so manche Tochter des Reichthums und des Ueberflnsses. Eine alte Gouvernante, die einst bessere Tage gesehen hatte, war durch vier Jahre ihr Gast; dieser folgte ein invalider Soldat, der lange schon sein siebzigstes Jahr hinter sich hatte; und nach diesem kam ein polnischer Flüchtling, dessen Name sogar Anne unbekannt blieb. In dieser Weise verbrachte sie die letzten dreizehn Jahre. Ihre rückhaltlose Mildthätigkeit allein hat sie so arm gemacht, denn ihr unausgesetzter Fleiß hätte sie jetzt längst allem Mangel enthoben. Aber ob sie gleich alt und schwach wird, trägt Anne ihr Loos doch ohne Murren, sucht kein Lob und spricht nie von dem Guten, das sie gethan. Viele ihrer Nachbarn und Bekannten staunten oft über die Tiefe ihrer Armuth; wurde sie aber um Aufschluß darüber angegangen, so antwortete sie einfach: „Es ist eben Gottes Wille so!“

Derselbe Geist der Demuth und Selbstverleugnung durchwaltet auch die ganze Handlungsweise des Arbeiters Rouy, eines anderen von Denen, die eine Medaille von 500 Francs erhielten. Die Schwiegereltern Rouy’s hatten vor Jahren aus bloßem Mitleid ein armes blödsinniges Mädchen adoptirt, das aus Widerwillen gegen seine Schwäche von den eigenen Eltern verlassen worden war. Als diese Leute nun selbst alt und hülflos wurden, nahm sie Rouy sammt ihrem Pflegekinde freudig bei sich auf. Kurz darnach starb seine Schwester, deren Mann sehr liederlich war, und hinterließ einen kleinen Jungen. Der Wittwer verheirathete

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 671. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_671.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)