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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

ein Geächteter, von Allen verlassen, durch die Welt wandern oder in weiter weiter Ferne, wo Niemand ihn kannte, sich eine neue Heimat suchen, so blieb ihm nichts übrig als denen sich anzuschließen, die außerhalb dieser vorurtheilsvollen Gesellschaft standen und eine Welt für sich bildeten. Zipser entschloß sich, wenn auch mit schwerem Herzen und vielleicht nicht ohne harte Kämpfe, zu Letzterem. Mathilde war ein liebevolles Mädchen, das ihm mit schwärmerischer Treue anhing, und schon wenige Monate später feierte er mit der vom Verhängniß ihm zugeführten Braut seine Vermählung.

So war nun aus dem heiteren, übermüthigen Studenten der Medizin ein stiller, oft schwermüthiger Scharfrichter geworden. Sein Schwiegervater hatte keine Söhne und da er längst schon sich hinfällig fühlte, trat er dem kräftigen Eidam, der sich in so merkwürdiger Weise als ein Mann von Thatkraft und festem Willen gezeigt hatte, gern das wenig beneidenswerthe Staatsamt ab, das ihm als Erbe vom Vater und Großvater zugefallen war.

Mathilde konnte sich in keiner Weise über ihren jungen Gatten beklagen. Er war stets liebevoll und zärtlich gegen sie, und ließ sie nie weder durch Miene noch Worte ahnen, daß ihr Liebreiz es gewesen sei, der ihn verlockt und dadurch der Gesellschaft entrissen hatte.

Dennoch nagten Kummer, mehr vielleicht noch ein still verborgener Ingrimm an dem Herzen des jugendlichen Scharfrichters. Auf seiner Stirn thronte finsterer Stolz, und in seinem tiefen Blicke lag etwas, das Manchen erbeben machte. Einige hielten das unheimliche Feuer seines Auges für Hohn, Andere meinten, es brodele und lodere die ganze Glut einer unersättlichen Lust nach Rache darin. Dies Alles waren aber wohl nur Vermuthungen, denn der so verschrieene junge Mann war leutselig, sanft und freundlich gegen Jeden, mit dem seine Stellung ihn in Berührung brachte, und Niemand wußte ihm einer harten oder ungerechten, lieblosen Handlung zu zeihen.

Da ihn Niemand störte, warf er sich mit Eifer auf das Studium der Medizin und bald hieß es, der junge Scharfrichter sei im Besitz vieler Geheimmittel, die jedes Gebrechen, jede Krankheit zu heben vermöchten.

Bei dem weit verbreiteten Volksglauben, der damals viel mehr als jetzt Schäfern und Scharfrichtern noch eigenthümliche Kräfte zusprach, war es nicht zu verwundern, daß der ehemalige Student der Arzneikunst mehr als andere seiner Collegen verstehen mußte und, um Hülfe angegangen, sich schnell einen bedeutenden Ruf als Wunderdoktor errang. Zipser benutzte diese abergläubische Meinung der Menge, theils um wirklich Segen zu stiften, theils um sich selbst in Achtung zu setzen und gleichsam unentbehrlich zu machen. Die Gesellschaft, die den Mann in ihrer erbärmlichen Anschauungsweise verächtlich von sich gewiesen, mußte sich jetzt zu ihm flüchten, ihn bitten, vor seinem Ausspruche erbeben oder durch ihn zu neuer Hoffnung erwachen. Das sollte die einzige Rache sein, die er für das ihm zugefügte Unrecht an der Gesellschaft zu nehmen entschlossen war.

Einmal als glücklicher Arzt zu Ruf und Ansehen gelangt, ward Zipser von Jedermann hoch in Ehren gehalten. Freilich verkehrte man nicht offen mit ihm, aber man mied ihn auch nicht geflissentlich. Die Gesellschaft öffnete dem weisen Scharfrichter nicht ihre Salons, dafür ließ dieser die Hülfesuchenden stundenlang vor seinem Laboratorium warten und während dieser zu Ewigkeiten sich verlängernden Stunden in Angst und Qual fast vergehen. Eine verzeihliche Schadenfreude fühlte er sein Herz durchzittern, wenn Bekannte sich in diesem Fegefeuer begegneten und Einer sich vor dem Andern vor Scham und Verdruß verbergen wollte.

Zipser wußte recht wohl, daß die lautere Ehrlichkeit nicht halb so viel Erfolge erzielt, als ein gewisser erlaubter Charlatanismus. Darum nahm er keinen Anstand, sich mit etwas imponirendem Hokuspokus zu umgeben. Ohnehin war er ja nicht Arzt und durfte eben so wenig als Arzt auftreten, wie er es wollte. Von ihm – das wußte er zu genau – begehrte Jeder, mochte er den gebildeten Ständen angehören oder in bäuerlicher Beschränktheit erzogen sein, etwas Ungewöhnliches, wo möglich dem Wunderbaren Verwandtes. Der Glaube des wirklich Leidenden mußte bei ihm ungleich mehr wirken als die Mittel, die er ihm verordnete. Deshalb ging Zipser’s ganzes Streben nur dahin, den Hülfesuchenden vor Allem zu veranlassen, daß er an die Unfehlbarkeit seines Rathes Glauben habe. War ihm dies gelungen, dann sah er fast ausnahmslos die auffallendsten Wirkungen von seinen Mitteln. Oft würde er es selbst nicht für möglich gehalten haben, daß ein absolutes Nichts so große Dinge hervorbringen könne, hätte er nicht die sichere Gewähr der eigenen Augen gehabt.

Als Liebhaber von Thieren umgab sich Zipser mit sehr verschiedenartigen Quadrupeden. Außer einigen zottigen Hunden hielt er sich fortwährend zwei prächtige Katzen, eine schwarze und eine gelbe, die er liebevoll pflegte und ihnen mancherlei Kunststücke beibrachte. Unter andern lehrte er sie mit erhobenen Vorderpfoten geraume Zeit sitzen und auf einen stummen Wink sich umarmen. Dann mußten sie wieder auf sein Geheiß minutenlang in einen oblongen Spiegel sehen und taktmäßig die rechte Vorderpfote bewegen. Auch zu schnurren und mit gekrümmtem Rücken einher zu spazieren verstanden die gelehrigen Thiere, wenn er es befahl, und dann stiegen ihnen die Haare zu Berge, als würden sie von einer unsichtbaren Kraft bewegt.

Mehr noch als diese Vierfüßler flößten denjenigen Individuen, welche Hülfe heischend in Zipser’s Behausung traten, drei große Raben ein. Diese Thiere betrachteten jeden Fremdling mit merkwürdig klugen Augen, umhüpften ihn, als hätten sie Auftrag erhalten seinen Charakter, seine Neigungen und Leidenschaften zu erforschen, und als ob diese Ocular-Inspektion wirklich etwas nütze, traten alle drei wunderlich dressirten Vögel schließlich vor dem Kabinet des Scharfrichters zusammen, und unterhielten sich schnatternd und lebhaft mit den Flügeln klappend unter einander, wobei sie nie versäumten, den Harrenden immerdar mit klugen und forschenden Augen zu betrachten. Erst auf die laut werdende Stimme ihres Gebieters zogen sich die Raben zurück, und nun erst öffnete sich die Thür des Kabinettes und dem Eintritte in das Innere stand nichts mehr entgegen.

In späteren Jahren machte der Anblick des schnell gealterten Mannes einen bleibenden Eindruck auf Jeden, der nicht erst noch in künstlicher Weise gesteigert zu werden brauchte. Zipser aber blieb bei seinen früheren Anordnungen und stieg durch dies konsequente Verfahren nur noch mehr in der Achtung der Halbgebildeten.

Unter Menschen sah man den alten Mann niemals, doch zeigte er sich bisweilen öffentlich. Dies geschah jedoch nie anders als zu Roß und in einem nicht gerade phantastischen aber doch stark auffallenden Kostüme. Zipser ritt stets einen feurigen Rappen, den er trefflich zu tummeln verstand. Sein volles weißes Haar bedeckte ein niedriger schwarzer Hut mit feuerrothem Futter, und um die Schulter schlug er jederzeit, mochte das Wetter kalt oder heiß, trocken oder feucht sein, einen faltenreichen schwarzen Mantel, der ebenfalls mit hochrothem Zeuge ausgeschlagen war. Bisweilen gaben ihm seine Lieblingsvögel eine kurze Strecke das Geleit, in der Regel jedoch verweilten sie auf der Schwelle der Hausthüre und bewegten nur unter lautem Krächzen die Flügel, wenn ihr Gebieter auf dem ungeduldigen Rappen in raschem Laufe davon sprengte.

Hatte die weltliche Gerechtigkeit irgendwo ein todeswürdiges Verbrechen zu bestrafen, so fehlte gewiß der eben so sehr bewunderte als gefürchtete Scharfrichter in seiner seltsamen Tracht, hoch zu Rosse sitzend, nicht. Jüngere Kollegen mochten den erfahrenen Mann gern bei derartigen traurigen Vorkommnissen sehen. Sie meinten, die Ausübung ihrer Pflicht werde ihnen dann leichter. Manche glaubten sogar, Zipser verstehe die Kunst, das Schwert zu feien, wodurch selbst ein ängstlicher oder noch ungeübter Anfänger in der Handhabung desselben fest und sicher werde.

Diese Ansicht war eine so allgemein verbreitete, daß Zipser sogar mehrmals officielle Einladungen erhielt, der Vollstreckung eines Todesurtheils beizuwohnen.

Auch diese eigenthümliche Auszeichnung benutzte der alte Mann zu seinem Vortheile. Er that immer geheimnißvoller, zeigte sich mit jedem Jahre zurückhaltender und trug einen Ernst zur Schau, der die Meisten scheu vor ihm zurückweichen machte.

In der mehr als fünfzigjährigen Ausübung seines Berufes war Zipser verhältnißmäßig nur wenige Male in die Nothwendigkeit versetzt worden, persönlich als Nachrichter auftreten zu müssen. War es geschehen, so hatte er sich der blutigen Aufgabe mit männlichem Ernst und mit der ganzen Würde eines Mannes, welcher im Auftrage eines Höheren gleichsam ein Gottesgericht zu vollziehen hat, entledigt. Man sah ihn aber in solchen Zeiten wenigstens drei volle Wochen lang gar nicht, wie er sich auch nach vollzogenem Urtheile längere Zeit vor Jedermann verborgen hielt.

Zipser’s Familienleben galt nicht blos für ein glückliches und musterhaftes, es verdiente diesen Namen auch wirklich. Selten

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