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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Zipser.
Nach wirklichen Erlebnissen erzählt von Ernst Willkomm.

Am äußersten Ende einer Lausitzer Stadt, gegen Süden lag ein kleines, aber freundlich aussehendes Haus. Von drei Seiten, war es mit sorgfältig gepflanzten Gärtchen umhegt. Vor der jederzeit verschlossenen Thür ward täglich Sand gestreut, gleichviel, ob das Wetter schön und sonnig war oder Regen und Nebel die Gegend bedeckten.

Die kleinen Fenster blinkten so hell, als wären sie von polirtem Spiegelglas, auch der metallene Hammer an der Thür, welcher die Stelle einer Schelle ersetzte, flimmerte wie Gold und war bei hellem Sonnenschein in ziemlicher Entfernung bemerkbar. Menschen sah man selten weder vor der Thür noch im Garten. Die Bewohner des Häuschens schienen sehr still und einsam zu leben. Nur sehr früh am Morgen umschritt wohl bisweilen ein hochgewachsener alter Mann das Haus, der Jedem durch sein ungewöhnlich reiches Haar, das lang und lockig bis auf die Schultern niederhing, auffallen mußte. Seltener noch ließ sich ein fein gebautes junges Mädchen vor der Thüre blicken, das sehr hübsch war, immer aber blaß und melancholisch aussah.

Aufmerksame Beobachter behaupteten, es gehe in dem einsam gelegenen Häuschen nicht so still zu, als es den Anschein habe. Am Tage freilich ließe sich selten Jemand dort blicken, am innigsten sehe man andere Leute dahin wandern, wer aber recht aufpasse, der könne bald nach Sonnenuntergang mehr als einen Menschen jenem Häuschen zuschreiten und durch behutsame Schläge mit dem metallenen Hammer Einlaß begehren sehen. Bald seien diese späten Gäste einfache Landleute, bald fein gekleidete vornehme Herren, bald gar in unscheinbare Gewänder sich hüllende Damen. Bis gegen Mitternacht währe regelmäßig dies Kommen und Gehen, und wer sich nur auf’s Spioniren legen wolle, der könne die wunderlichsten Beobachtungen und gar merkwürdige Entdeckungen noch obendrein machen.

Unsere Leser werden den heimlichen Besuch erwähnten Hauses sehr natürlich finden, wenn wir ihnen sagen, daß es die Wohnung des Scharfrichters war und daß man um die Mitte des vorigen Jahrhunderts noch nicht weit genug in Kultur und Humanität vorgerückt war, um öffentlich und am hellen Tage mit einem Scharfrichter zu verkehren.

Zipser war auch nicht aus freiem Entschlusse ein Bewohner des einsamen Hauses geworden. Der Zufall und eine recht heitere Lebensstunde hatten ihn dazu gemacht. Vor langen, langen Jahren war Zipser als hoffnungsvoller Student bei Verwandten zu Besuch gewesen, mit mehreren Freunden in ein Tanzlokal gegangen, wo eine Menge junger Mädchen sich im Kreise schwang, während andere unthätig der Belustigung zusahen. Eine dieser nicht tanzenden Schönen, die entfernt von den übrigen Zuschauerinnen, mit sehnsüchtigen Blicken dem Jubel ihrer Schwestern lauschte und diese um den herrlichen Genuß zu beneiden schien, gefiel dem fröhlichen Studenten vor Allen. Ohne sich lange zu besinnen und ohne das niedliche Mädchen um Erlaubniß zu fragen, faßte er das schöne Kind um die schlanke Taille und riß sie, ungeachtet ihres ängstlichen Sträubens, hastig in den Kreis der tanzenden Paare. Im Taumel der Lust bemerkte er nicht sogleich die Verstörung, welche sich auf der Stelle aller Tanzenden bemächtigte und binnen wenigen Minuten den ganzen Tanzplan leer fegte. Erst als er sich mit dem keuchend und schluchzend in seinem Arme liegenden Mädchen allein sah, ward ihm unheimlich zu Muthe und bleicher Schreck entfärbte seine hoch geröthete Wange. Eine schnelle, wilde Frage, an das erschrockene Mädchen gerichtet, entriß diesem die bedeutungsschwere Antwort: „Ich bin die Tochter des Scharfrichters!“

Diese wenigen Worte erklärten Alles. Zipser mußte sich widerstrebend bekennen, daß ein einziger unbesonnener Augenblick sein ganzes Lebensglück zerstört habe, daß dies Leben selbst auf dem Spiele stand, wenn er nicht Manns genug war, sich und seinen in ihm aufsteigenden Schmerz gewaltsam zu besiegen.

Er beruhigte mit wenigen Worten die verstörte Schöne, die noch zitternd und weinend an ihm lehnte und, wie ihm däuchte, nur das Unglück des jungen Mannes beklagte.

„Beruhige Dich und sei still!“ sprach er innerlich ergrimmt. „Ich habe Dich in meinem Arme gehalten, Du bist mein, wenn Du mich nicht verachtest!“

So sprechend, verließ der kecke Student festen Schrittes den Tanzsaal, die Tochter des Scharfrichters am Arm. Er näherte sich finster und trotzig der zusammengelaufenen Menge, die sogleich auseinander stob, um das Paar unberührt vorübergehen zu lassen. Zipser lachte ingrimmig, sein Entschluß aber stand fest. Die Tochter des Scharfrichters war seine Braut. Entweder wollte er das schuldlose Kind der Welt und der bürgerlichen Gesellschaft dadurch, daß er sie ehelichte, wiedergeben, oder er selbst wollte dieser von Vorurtheilen beherrschten ungerechten Gesellschaft für immer den Rücken kehren.

Dem jungen Manne ward keine lange Wahl gelassen. Niemand wollte mehr mit ihm verkehren, denn Vorurtheile, die wir mit der Muttermilch eingesogen haben, die mit uns gewachsen und erstarkt sind, wirken ansteckend wie pestartige Krankheiten. Kein Einziger wagte es so hoch sich über die urtheilslose Menge zu erheben, daß er dem ehemaligen Freunde und Genossen abermals die Hand gereicht hätte. Zipser war verstoßen. Wollte er nicht wie

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 661. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_661.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2017)