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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

No. 48. 1856.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Herr Klein.
Vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“
(Schluß.)



Gleich hinter Zürich, zum Theil noch zwischen seinen Straßen, breitet sich der See aus, dieser lieblichste aller Seen, der selbst denen des nördlichen Italiens nicht nachsteht. Der Bodensee und der Genfersee sind größer, mächtiger, haben einzelne romantischere Parthieen; der Vierwaldstädtersee ist in allen seinen Parthien wild und romantischer; aber an Anmuth, Lieblichkeit und Freundlichkeit übertrifft sie alle weit der Zürchersee. Und nirgend sieht man ihn mehr in allen seinen Reizen, als auf der Waid bei Zürich. Mit seiner ganzen Ausdehnung lagert er sich bis an die Stadt; von allen anderen Seiten sieht man ihn umgeben von leise ansteigenden Anhöhen, und jede derselben ist bedeckt mit üppigen Reben, mit reichen Obstgärten, mit kräftigen Waldungen, aus denen allen überall freundliche Häuser hervorsehen; und in allen Schluchten zwischen den Anhöhen strömen, wie wunderbare Bäche, die sich dem See vermählen wollten, lange Dörfer mit hellen Häusern, dunklen Kirchthürmen und blühenden Gärten hervor. Die Ufer des Sees selbst aber, unmittelbar am Wasser, sind mit den schönsten, freundlichsten, mitunter den elegantesten und überall weißen Häusern besetzt. Man meint, den ganzen See, soweit das Auge reicht, mit weißen Perlen eingefaßt zu sehen.

Hinter den Anhöhen erheben sich zwei dreifache Ketten von Bergen, die eine höher als die andere. Im fernsten Hintergrunde überragt sie alle, ungeheuern Titanen gleich hoch in die Wolken steigend und strebend, jene ununterbrochene Kette der wunderbarsten Alpengletscher links vom Glärnisch an, der achttausend Fuß hoch steil neben der Stadt Glarus ansteigt, bis rechts zu dem Tiflis hin, der, beinahe elftausend Fuß hoch seinen ewigen Schnee tragend, die Kette schließt.

Der Geheimerath Fischer war bis Zürich nur noch stiller geworden. Er konnte sich immer weniger den Eindrücken der mit jedem Schritte schöner werdenden Gegenden entziehen, und wurde damit auch nur melancholischer, trotz jenen einzelnen Lichtblicken in den elenden Zustand des Volkes.

Fast ähnlich war es mit seinen beiden Töchtern. Auch sie wurden stiller und melancholischer, fast ängstlicher, je näher sie Zürich kamen. Selbst das schelmische und stets unverzagte Fräulein Charlotte ließ zuweilen sehr das Köpfchen hängen. Ein aufmerksamerer Beobachter als der Geheimerath würde unschwer errathen haben, daß die beiden Mädchen irgend einem wichtigen Ereignisse, dessen Ausgang für sie sehr zweifelhaft war, entgegensahen.

Sie waren des Nachmittags in Zürich angekommen, und im Hotel Baur, dem ersten Gasthofe der Schweiz, abgestiegen; sie hatten im Verlaufe des Tages die Stadt besehen, später den Sonnenuntergang auf der „Katy“ im botanischen Garten, und dann in dem stillen Abenddunkel eine Gondelfahrt auf dem See gemacht. Am folgenden Nachmittage fuhren sie zu der Waid hinaus. Die beiden Mädchen schienen diese Fahrt nach dem schönsten Punkte bei Zürich kaum erwarten zu können, und doch wieder schienen sie vor ihr zu erschrecken. Sie zitterten wenigstens heftig als sie in den Wagen stiegen; die blasse Louise konnte sich kaum halten.

Sie kamen auf der Waid an, und sehten sich unter die Kastanienbäume, die das Wirthshaus mit dem Badehause verbinden. Dort gerade hatten sie die wunderschönste Aussicht. Sie gaben sich ihr ganz hin, selbst die zitternde Louise, die sich nur an dem Arme der gleichfalls sehr bewegten Schwester aufrecht halten konnte. Es dauerte lange, ehe sie die Blicke von allen den Schönheiten zurückwenden konnten. Als sie es thaten, wurden die Augen des Geheimeraths auf einmal zornsprühend, und sein Gesicht beinahe blässer, als das der bleichen Louise. Auf der andern Seite unter den Kastanien stand der Kammergerichtsassessor Hartmann aus Berlin.

„Das ist zu arg,“ stammelte vor Zorn der Geheimerath.

„Eine solche Unverschämtheit, uns hierher zu verfolgen!“

„Aber, Vater,“ sagte Fräulein Charlotte.

„Aber, Vater! Schweig; ich will kein Wort mehr hören.

Wir kehren um; auf der Stelle. Wir reisen ab; sofort. Diese naseweisen Kammergerichtsassessoren.“

„Aber, lieber Vater, der Herr Hartmann ist kein Kammergerichtassessor mehr.“

„Was?“

„Er ist seit acht Tagen zum Stadtgerichtsrath in Berlin ernannt“

„Was? Ah, ah! Das ist freilich etwas Anderes. Aber woher weißt Du das?“

„Und er wird auch nie wieder naseweis sein.“

„Ah, ah! Du Schelm! – Also Stadtgerichtsrath? Kein Kammergerichtsassessor mehr!“

Fräulein Charlotte hatte dem neuen Stadtgerichtsrathe schon einen Wink gegeben. Er kam näher.

„Welch’ glückliches Zusammentreffen an dieser schönen Stelle.“

„Herr Stadtgerichtsrath, Herr College muß ich eigentlich sagen, empfangen Sie meine besten Glückwünsche zu Ihrer Beförderung.“

„Herr Stadtgerichtsrath,“ rief Fräulein Charlotte, „Sie sind ja wohl schon seit einigen Tagen hier, und kennen die Gegend. Nennen Sie uns doch die hohen Schneeberge, die dort hinten den Horizont bekränzen.“

„Ich kann sie Ihnen bezeichnen, mein Fräulein.“

„Vor Allem, wie heißt jener hohe Berg in der Mitte der Kette, der, in Gestalt des höchsten Riesengrabes der Welt, vom Fuße bis zur Kuppel mit seinem weißen Schnee bedeckt ist?“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 645. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_645.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2017)