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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Berliner Criminalgerichts liegen an einem langen, schmalen, sich mehrfach windenden Gange. Dieser steht an dem einen Ende durch eine Thür in unmittelbarer Verbindung mit den Gefängnissen. An seinem andern Ende befindet sich die Ein- und Ausgangsthür für die Personen, die aus der Stadt an das Gericht geladen sind. Beide Thüren werden immer verschlossen gehalten; an der einen halten fortwährend zwei Gefangenwärter, an der andern zwei Criminaldiener Wache. Die verschmitzte Abenteuerin entkam dennoch. Als sie durch den Gefangenwärter, der sie hergebracht hatte, aus der Verhörstube wieder hinausgeführt wurde, befanden sich in dem Gange wie gewöhnlich viele Menschen, vorgeladene Zeugen, Sachverständige, Damnificaten u. s. w. Auf einmal war sie dem Gefangenwärter unter den Händen in der Menge verschwunden, und ehe er sich nur darauf besinnen konnte, wo er sie in dem Gewühl suchen sollte, war sie schon vor der Ausgangsthür nach der Stadt hin. „Das war ein langes Zeugniß,“ sagte sie zu dem Wache haltenden Criminaldiener. „Bitte, lassen Sie mich schnell hinaus: ich habe ein krankes Kind zu Hause.“ – Sie sah aus, wie eine ehrbare Bürgersfrau, die ein Zeugniß abgelegt habe. Sie wurde hinausgelassen.“

„Und man wartet wohl noch heute auf ihre Rückkehr’?“ fragte der Herr Klein.

„So glaube ich,“ sagte etwas kleinlaut der Geheimerath, der selbst der Inquirent der Diebin gewesen war. „Ich würde mich sehr freuen, wenn sie hier wieder ergriffen würde und ich dazu beitragen könnte.“

„Und nun ihr Signalement, Herr Geheimerath?“

„Sie ist von mittlerer Größe –“

„O, wenn ich bitten darf, nicht das Schablonensignalement; dieses führe ich in der Tasche. Es ist in dem Steckbrief des Berliner Criminalgerichts. Aber vielleicht frischt es Ihr Gedächtniß auf.“ Er zog ein Papier aus der Tasche und las:

„Die verfolgte Bommert, die sich bald Gundnow, Berchau, Lenz, von Lenz, von Brünn, von Brüning, Baronin von Brinksens, Gräfin Schwerin nennt, ist 39 Jahre alt, evangelischer Religion, mittlerer Statur, 4 Fuß 11 Zoll groß; hat wenig Haar, weshalb sie zuletzt hier eine braun-schwarze Perrücke trug, blaue Augen, eine etwas breite Nase, ein rundes Kinn und einen kleinen Mund.

Besondere Kennzeichen: die rechte Schulter höher als die linke, oben keine Zähne, überm Kinn links eine Narbe von der Form einer Bohne, in der Mitte des Kinnes eine kleine runde Pockennarbe; sie ist der deutschen und polnischen Sprache gleich mächtig.“

„Richtig, richtig!“ sagte der Geheimerath. „Und ich kann Ihnen Folgendes hinzufügen, was in dem Steckbriefe nicht –“

Aber auf einmal brach er ab. Er wurde unruhig, blaß, seine Stirn wurde feucht.

„Darf ich bitten, Herr Geheimerath?“

Der Geheimerath fuhr über die nasse Stirn, als wenn er ein böses Phantom verscheuchen wolle.

„Ah,“ lachte der Herr Klein, „Ihr Gedächtniß bringt Ihnen wohl noch neue, noch größere Häßlichkeiten zu denen des Signalements?“

„Nicht doch, mein Herr; die Person war nicht so häßlich, wie jene Beschreibung sie macht. Sie hatte ein Etwas, das man in einem gerichtlichen Signalement nicht wieder geben konnte.“

„Zum Beispiel?“

„Zum Beispiel einen angenehmen Blick der Augen, und die Augen waren groß und nicht häßlich. Ferner –“

„Ferner?“

„Ferner einen wohlgeformten Arm.“

„Und weiter?“

„Weiter wüßte ich nichts.“

Aber der Geheimerath mußte doch noch mehr wissen. Er wurde unruhiger, blasser, auf seiner Stirn sammelten sich dickere Schweißtropfen.

Der Herr Klein sah ihn mit einiger Verwunderung an. Er fand aber keine Zeit, seiner Verwunderung weiteren Ausdruck zu geben; denn in demselben Augenblicke sah er mit seinen Augen, die auch, wenn sie sich verwunderten, überall waren, einen Menschen, der sich durch die Menge auf ihn zudrängte, in einer kurzen Entfernung von ihn, stehen blieb und ihm einen Wink zuwarf. Es war ein langer, grauer Mensch in einem schäbigen Rocke und mit einem schäbigen Gesichte. Der Herr Klein wurde eilig.

„Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Geheimerath. Wenn ich Ihnen wieder dienen kann, wird es mir immer eine Freude sein. Leben Sie wohl. Meine Damen, ich empfehle mich Ihnen.“ Er verschwand mit dem grauen, schäbigen Menschen in der Menge. Auch Fräulein Charlotte hatte die Unruhe des Geheimeraths bemerkt.

„Fehlt Ihnen etwas, Vater?“

„Es ist hier so heiß.“

„Der Mensch hat Sie mit der dummen Geschichte gequält. Es war ein recht unangenehmer, widerwärtiger Mensch.“

„Ein Polizeibeamter, Charlotte!“

„Wer weiß? Es kann auch eben so gut einer jener Industrieritter sein, vor denen er warnte, um sicher zu machen.“

„Meinst Du, Charlottchen?“

„Welch’ ein gemeines, verdächtiges Gesicht rief ihn da eben ab.“

„Ich hielt es für das Gesicht eines verkleideten Polizeidieners.“

„Es war ein vollkommenes Gaunergesicht.“

„Meinst Du, Charlottchen?“

Der Geheimerath sprach so weich; er stritt nicht mehr. Fräulein Charlotte verwunderte sich noch mehr, als der Polizeibeamte. Sie ängstigte sich.

„Sind Sie unwohl, lieber Vater?“ !

„Nicht doch. Aber wollen wir nicht zum Gasthofe zurückkehren? Ich habe eine solche Unruhe. Ach, Charlottchen!“

„Um Gotteswillen, mein Vater! Was ist Ihnen?“

„Da haben wir es! Es ist richtig!“

„Was ist richtig?“

„Da kommt er. Sein Gesicht –“

„Wer kommt?“

„Es ist richtig, Charlottchen, gib Acht! Meine Ahnung!“

Der Geheimerath wurde leichenblaß. Herr Klein kehrte zurück, und machte sich rasch Bahn durch die Menge. Sein Gesicht drückte eine gewisse wichtige Unruhe aus. Er kam in gerader Richtung auf den Geheimerath zu.

„Herr Geheimerath, Sie haben gestern in einem hiesigen Magazine Einkäufe für Ihre Fräulein Töchter gemacht?“

„Ja, mein Herr.“

„Es war noch eine dritte, ältere Dame in Ihrer Gesellschaft?“

„Ja.“

„Sie steht im Fremdenbuche als zu Ihrer Familie gehörig aufgeführt?“

„So ist sie eingeschrieben.“

„Die Dame ist vor einer Stunde in das Magazin zurückgekehrt.“

„Mein Gott!“

„Sie hat sich die reichsten Stoffe vorlegen lassen.“

Der Geheimerath wollte sprechen; die Stimme versagte ihm.

Der Andere fuhr fort:

„Sie hat eine reiche Auswahl getroffen, für mehr als sechshundert Thaler. In Ihrem Namen, für Ihre Fräulein Töchter, die Sie mit den schönen Sachen überraschen wollten. Sie hat die Sachen in den Gasthof bringen lasten, und sie dort in Empfang genommen. Natürlich auf Kredit, auf Ihren Kredit. Sie gehörte zu Ihrer Familie. Dem Herrn Geheimerath Fischer aus Berlin kreditirte man gern. Hinterher bekam man doch Besorgnis; Man erkundigte sich in dem Gasthofe; die Dame war fort; sie konnte auf einer Promenade, bei Ihnen sein; aber auch die Sachen waren fort; und nicht blos die heute von ihr gekauften, auch Ihre gestrigen Einkäufe. Kisten, Schränke und Koffer waren erbrochen und leer.“

Der Geheimerath hatte die Sprache wiedergewonnen. „Die Bommert!“ rief er. Aber er konnte nur das eine Wort aussprechen.

„Ich wagte die Ahnung nicht,“ sagte der Herr Klein.

Aber dieser Polizeibeamte war ein dankbarer Mensch. „Herr Geheimerath,“ fuhr er fort. „Ich bot Ihnen vorhin meine Gegendienste an. Gestatten Sie mir, Ihnen einen Rath zu ertheilen. Es wird bei uns jetzt über den Vorfall eine weitläufige, zuerst polizeiliche und dann gerichtliche Untersuchung eingeleitet werden. Sie und Ihre Fräulein Töchter werden darin die Hauptzeugen sein. Man würde Sie zwanzig Mal vernehmen wollen; Sie würden Wochen lang bei uns bleiben müssen, und doch würde man dadurch weder die Diebin, noch die Sachen zurückbekommen. Mein Rath wäre daher, Sie reiseten so schnell als möglich von hier ab. Ihre Vernehmungen können ja später durch Requisitionsschreiben herbeigeführt werden.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 625. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_625.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2017)