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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

„Nach Wiesbaden reisen Sie, mein Herr?“

„Nach Wiesbaden, gnädige Frau.“

„O, mein Gott! Ich habe meinen Sohn hier nicht gefunden.

Er ist mit einem Bösewicht, seinem Verführer, in Wiesbaden; schon seit drei Tagen. Wie sollte ich allein ihm dahin folgen? Ohne Beistand? Ohne Schutz? O, mein edler Herr! Sie haben schon so viele Güte für mich gehabt. O, meine lieben, theuren Freundinnen, helfen Sie einer unglücklichen Mutter, Ihren braven Vater zu bitten.“

Aber es bedurfte der Bitten der lieben, theuren Freundinnen nicht. Sie hatte die Hand des Geheimeraths ergriffen und gedrückt.

„Es wird uns Allen eine große Freude sein, gnädige Frau, Sie noch langer in unserer Gesellschaft zu sehen.“

„Nein, das ist um aus der Haut zu fahren!“ rief es in Fräulein Charlotte.

Sie reisten am andern Tage zusammen nach Wiesbaden. Unterwegs zeigte die Dame sich wirklich als eine mütterliche Freundin der beiden Töchter des Geheimeraths.

„Sie nehmen mir eine Bemerkung nicht übel, mein edler Freund,“ sagte sie zu ihrem Beschützer.

„Wie könnte ich bei Ihrem Wohlwollen?“

„Ihre lieben Töchter gehen zu einfach. Ich ehre den einfachen Sinn; vielleicht haben auch die jungen Damen nicht gewußt, daß es gerade seit der vorigen Saison nicht mehr zum guten Ton gehört, in einfacher Reisetoilette zu erscheinen. Besonders die Engländerinnen haben diese gute Sitte verdrängt. Es ist das natürlich. Diese in Deutschland reisenden Engländerinnen gehören meist den Klassen an, die in ihrer Heimat eine gute Gesellschaft nie zu sehen bekommen: Schusters-, Schneiders- und Fleischerstöchter. Aber Sie haben Geld; und da putzt und bläset sich das denn auf, und die Französinnen und Deutschen machen es ihnen nach. Kurz, der frühere gute Ton ist einmal verdorben, und man muß mitmachen. Ich, eine Wittwe, eine unglückliche Mutter, kann mich zwar von solcher Mode emancipiren; aber solche junge, liebenswürdige Damen – Sie werden begreifen! Und ich werde in Wiesbaden um die Erlaubniß bitten, den feinen Geschmack der lieben Kinder in der Auswahl einer neuen Toilette bewundern zu dürfen.“

Der Herr Geheimerath begriff; um so weniger konnte er begreifen, daß seine Töchter nicht begriffen. Es handelte sich doch um ihre Toilette, und in Wiesbaden waren die elegantesten Läden und Magazine, die es gerade zu jener Zeit mit Gerson am Werder’schen Markte in Berlin aufnehmen konnten. Er ging so weit, dies selbst zuzugeben.

„Ich meinte, es ginge nichts über Berlin,“ erwiederte ihm Fräulein Charlotte.

„Eigentlich allerdings nicht. Allein wenn man alle diese eleganten Läden zusammen nimmt, so möchten sie doch gewissermaßen Gerson überbieten, obwohl Gerson sonst der erste Laden der Welt ist.“

„So warten wir, bis wir wieder in Berlin sind.“

„Aber, liebe Charlotte, dann ist ja der Zweck verfehlt. Ihr müßt doch auf der Reise anständig aussehen; und ich will es nun einmal, und wenn Ihr nicht mit wollt, so gehe ich mit der Frau von Neetzow allein und kaufe.“

Das wollte Fräulein Charlotte gar nicht. Sie hatte zwar noch eine List. „Lassen Sie uns wenigstens warten bis Frankfurt, Vater. Dort ist der Bundestag, dort müssen also noch großartigere Läden sein –“

„Ja, ja, wir haben selbst einen Gesandten da.“

„Also!“

Aber die Logik seiner Tochter wollte der Baronin gegenüber dem Geheimerath nicht einleuchten.

„Nein, nein, in Frankfurt ist doch auch viel Juden- und anderer Trödel. Wer weiß, was man dort findet. Hier sind nun einmal schöne Sachen.“

Die beiden Mädchen mußten mit ihm und der Baronin in einen der reichen, eleganten Läden gehen, die in der Badesaison zu Wiesbaden allerdings mit Gerson in Berlin wetteifern können. Die Baronin schien sie in den reichsten und elegantesten von allen geführt zu haben. Sie stellte sich auch an die Spitze des Nachfragens, des Auswählens und des Handelns. Sie war hier in der That ganz die mütterliche Freundin der beiden jungen Damen. Indeß waren beide junge Mädchen sehr enthaltsam, Fräulein Charlotte offenbar aus Trotz, und die stille Louise, weil ihre Schwester es war. Sie nahmen nur wenige und einfache Sachen, zum Aerger des Geheimeraths, aber unter fortwährendem Lobe der Baronin über die liebenswürdigste Bescheidenheit, die ihr noch nie vorgekommen sei.

Die Dame schien glücklich zu sein; aber nur für die halbe Stunde in dem Laden. Draußen sagte sie traurig: „Jetzt beginnen wieder die unglücklichen Sorgen der Mutter. Seien Sie glücklich unterdeß in diesem schönen Punkte der Natur und des Lebens. Ich suche meinen Sohn auf; ich muß ihn allein suchen.“

Sie verschwand in der Menge. Der Geheimerath sah ihr mit einem tiefen Seufzer nach, wie einer holden Erscheinung aus einer andern Welt, die plötzlich entzückt hat, aber auch eben so plötzlich wieder verschwindet.

„Wo ich sie nur schon gesehen habe?“ rief er träumend.

„Vielleicht in der Stadtvogtei,“ sagte boshaft Fräulein Charlotte.

Aber die beiden jungen Damen gaben sich ganz der schönen Natur und dem bewegten, ihnen völlig neuen Badeleben hin, und bekümmerten sich wenig mehr um die Baronin aus Lauenburg in Hinterpommern.

Sie sollten sich indeß doch bald darum bekümmern müssen.

Vater und Tochter saßen am Sonntag Nachmittag auf der schönen Terrasse vor dem Kurhause. Die Töchter waren glücklich, der Vater aber nicht. Die Baronin hatte sich nur auf wenige Augenblicke sehen lassen; sie war sehr verstimmt und traurig gewesen, und hatte ihren Sohn vergeblich gesucht. Sie hatte zwar von einem Trupp junger Kavaliere sprechen gehört, unter denen auch einige junge Herren von der Besatzung in Mainz seien, und die allerlei tolle Streiche und Debouchen machten. Die unglückliche Mutter konnte nicht zweifeln, daß ihr Sohn darunter sei; aber sie hatte ihn noch nicht zu Gesichte bekommen können, und mußte weiter suchen. Das hatte auch den Geheimerath verstimmt. Er ärgerte sich über Alles; er schimpfte über Alles, über die einfältigen Berge, das kleine Nest, den schlechten Kaffee, und daß nicht einmal Weißbier da war; endlich selbst über das bunte, bewegte, fröhliche Leben, in dem er mit seinen beiden Töchtern sich mitten innen befand.

„Und dabei die Schande,“ rief er, „so den Sonntag zu entheiligen. Selbst die Läden sind heute offen!“

Das war aber Fräulein Charlotte zu arg.

„Aber, Vater,“ rief sie, allem Verbot zum Trotz. „Was hätten Sie denn in diesem Augenblicke in Berlin? Selbst in Ihrem schönen Thiergarten? Alles still, züchtig und ehrbar. Wie die Lippen stumm, so müssen die Blicke niedergesenkt sein; kein Wagen darf schnell fahren, keine Musik darf laut werden –“

Zu dem Aerger des Geheimeraths gesellte sich ein anderes Gefühl.

„Und darüber lästerst Du, Mädchen? Ueber hohe polizeiliche Anordnungen?“

„Wir sind ja nicht in Preußen, Vater.“

Endlich schien er einmal wieder für die Logik seiner Tochter zugänglich zu sein. Er erwiederte seiner Tochter nichts; er hätte es auch nicht gekonnt, denn in demselben Augenblicke war Jemand an den Tisch getreten, der, von dem Kurhause kommend, vielfach in dem Gewühle umhergespäht, und dann, als er den Geheimerath und dessen Töchter bemerkt hatte, in ziemlich gerader Richtung, aber doch dem Anscheine nach absichtslos, auf ihren Tisch zugegangen war.

Es war ein hübscher junger Mann in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre, mit einem feinen, klugen, offenen Gesichte, in dem man sehr genau nachsehen mußte, wenn man den lauernden Blick erhaschen wollte, der sich tief hinter den lebhaften Augen versteckt hielt. Wie er absichtslos an den Tisch gekommen zu sein schien, so blieb er auch wie zufällig stehen.

„Ein schöner Punkt hier!“ wandte er sich an den Geheimerath mit einer treuherzigen, aber nicht rohen Ungenirtheit, die dem offenen Gesichte, freilich ohne den Zusatz des versteckten lauernden Blickes, entsprach.

„O ja,“ entgegnete der Geheimerath sehr kalt.

„Der Reisende, zumal wenn er den Rhein herauf kommt, hat sich allerdings an schöne Gegenden gewohnt.“

Der Geheimerath antwortete nur mit einem leichten Kopfnicken.

„Die Damen werden mir gewiß ebenfalls beistimmen.“

Fräulein Charlotte sah nach den Bergen, ohne ihm etwas zu erwiedern. Die sanfte Louise sagte:

„Wir haben wunderschöne Parthieen gesehen.“

Der Fremde wurde lebhafter. -

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 623. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_623.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2017)