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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

„Wittwe?“

„Mein verstorbener Mann war Rittmeister; mein einziger Sohn wurde ebenfalls Soldat; er trat früh ein, ist jetzt Fähndrich, und steht seit einiger Zeit bei dem einunddreißigsten Regimente in Mainz. Er war so gut, so unverdorben; böses Beispiel verführte ihn bald. Er machte mir viele Sorgen. Seine Kameraden schrieben von ihm in die Heimat, daß er hier ein ausschweifenderes Leben führe, als je vorher. Sie begreifen das Mutterherz, mein Herr. Ich mußte selbst sehen, ihn beobachten, um danach weiter beschließen zu können, was zu seiner Rettung erforderlich ist.“

„Ich begreife vollkommen, gnädige Frau,“ sagte der teilnehmende Geheimerath. „Um ihn beobachten zu können, muß ihm meine Anwesenheit in Mainz vor der Hand ein Geheimniß bleiben.“

„Es ist sehr einleuchtend.“

„Zu demselben Zwecke nahe ich mich Ihnen mit einer Bitte.

Mein Name würde bekannt werden, in das Fremdenblatt kommen, wenn ich ihn im Gasthause abgeben müßte. Daher –. Aber darf ich vorher fragen, mit wem ich die Ehre habe zu sprechen?“

„Ich bin der Geheimerath Fischer aus Berlin.“

„Ach, Herr Geheimerath, dann darf ich meine Bitte nicht wagen.“

Die Dame wurde sehr traurig.

„Sprechen Sie, meine gnädige Frau.“

„Wie dürfte ich, die Unbekannte, in die Familie eines so hochstehenden Mannes, wenn auch nur äußerlich, wenn auch nur dem Namen nach, mich eindrängen wollen?“

„Befehlen Sie, gnädige Frau,“ sagte der gutmüthige Geheimerath.

„Ich muß Ihnen vorher meinen Paß zeigen, damit nicht der geringste Zweifel –“

„Ich bitte, gnädige Frau. Sie würden mich beschämen. Unter keinen Umständen.“

Der Geheimerath wußte zu leben; die Dame gleichfalls. Sie stand davon ab, ihn zu beschämen.

„Wie gütig sind Sie, Herr Geheimerath. Ich darf also die Bitte an Sie richten, mich an Sie anschließen und als zu Ihrer Familie gehörig mit Ihnen in Ihren Gasthof in Mainz einkehren zu dürfen? Ich werde Sie nicht im geringsten weiter belästigen, aber zugleich einen Trost darin finden, Ihren liebenswürdigen Töchtern eine mütterliche Freundin zu sein.“

Sie sprach so unglücklich, sie blickte so schmelzend, ihr schöner runder Arm legte sich so sanft bittend auf den Arm des Geheimerathes.

„Es wird mir eine Freude sein, einer unglücklichen Mutter in Ausübung einer so schweren Pflicht behülflich sein zu können.“

„O, Sie edler Mann, wie soll ich Ihnen danken? Und darf ich bitten, mich zu Ihren Fräulein Töchtern zu führen?“

Die Fräulein Töchter saßen in der Nähe. Sie hatten fast jedes Wort hören können, besonders die aufmerksame jüngere Tochter. Warum hätte die unglückliche Mutter ihr Leiden vor den liebenswürdigen Töchtern des edlen Mannes verbergen sollen, dem sie ihr volles Zutrauen schenkte? Fräulein Charlotte's Herz wollte bersten; die ganze kleine Person wollte wenigstens – aufspringen. Aber sie durfte ja nicht einmal mehr: „Aber, Vater!“ sagen.

„Frau Baronin von Reetzow,“ stellte der Geheimerath die Dame seinen Töchtern vor.

„Nicht Baronin! Aber eine unglückliche Mutter, die sich glücklich schätzen wird, Ihnen, meine jungen Damen, wenn auch nur für einige Stunden, eine mütterliche Freundin zu sein. Darf ich um ihre Namen bitten?“

„Meine Schwester heißt Louise, und ich Charlotte,“ antwortete Fräulein Charlotte kurz, aber trotzig.

„O, ich werde Ihre Liebe gewinnen!“

Das Dampfboot hatte Mainz erreicht. Es legte an dem Landungsplatze an. Der Geheimerath führte die mütterliche Freundin seiner Töchter; es durchzuckte ihn elektrisch, als ihr schöner, weißer, runder Arm so mit völligem Vertrauen in dem seinigen lag.

„Ihr Paß, mein Herr!“ sagte höflich der Gensd’arm an der Landungsbrücke.

Der Geheimerath wies seinen Paß vor.

„Herr Geheimerath Fischer aus Berlin?“

„Wie Sie sehen.“

„Mit Familie?“

„So steht es auch im Paß.“

„Alle drei Damen?“

„Alle drei,“ antwortete der Geheimerath erröthend. Wem mochte das Erröthen gelten, dem Gewissen des alten Inquirenten, oder dem schönen Arme, den er so gewissenlos als zu seiner Familie gehörig erklärte?

„Aber der Paß enthält weder Zahl noch Signalement?“

Der Geheimerath wurde stolz. „Sie sehen, es ist ein Ministerialpaß; der enthält niemals solches Detail. Dafür wird er aber auch nur vertrauten Personen ertheilt.“

„Entschuldigen Sie; man muß seine Pflicht thun.“

Der Geheimerath passirte mit seiner Familie. Im Gasthofe zum „Römischen Kaiser“ schrieb der Geheimerath gleichfalls in das Fremdenbuch: „Geheimerath Fischer aus Berlin, mit Familie.“

Die Frau Baronin, die selbst keine Baronin sein wollte, hatte sich bald in ihre Stube zurückgezogen, und war dann ausgegangen.

Das Mutterherz ließ ihr keine Ruhe.

„Charlotte,“ sagte der Geheimerath zu seiner jüngsten Tochter, „warum bist Du so still?“ Die ältere Tochter fragte er nicht. Sie war immer still.

„Ich darf ja nicht mehr sprechen,“ antwortete Fräulein Charlotte.

„Was soll das nun wieder heißen?“

„Seit jenen langweiligen Engländern, die mit Gewalt Russen sein sollten –“

„Du willst mir also schon wieder widersprechen?“

„Ich darf ja nicht.“

„Wegen dieser unglücklichen Mutter?“

„Wer sagt Ihnen, daß sie das ist?“

„Sie selbst.“

„Wie mancher Inquisit hat Ihnen –“

„Schweig; ich kenne die Menschen. Ein alter Inquirent, wie ich, kann Wohl die Verbrecher von dem ehrlichen Manne unterscheiden.“

„Wir sprechen von einer Frau.“

„Auch Frauen, auch Frauen. Auch bei dieser. Welcher Anstand, welche edle Würde –

„Welche Aufrichtigkeit! So ohne Weiteres sich in eine völlig unbekannte Familie einzudrängen –“

„Sie entschuldigte sich ja. Sie ist so allein –“

„Warum reiset sie allein? Macht nicht schon das sie verdächtig? Nicht einmal ein Bedienter –“

„Das verstehst Du nicht. Sie will ihren Sohn überraschen, beobachten.“

„Aber, Vater, was hinderte sie der Bediente –“

„Schon wieder: aber, Vater! Ich sage Dir, es ist eine edle Unglückliche. Diese Anmuth, dieser Adel lügen nicht. – Warum antwortest Du mir nichts?“

„Ich darf Ihnen ja nicht widersprechen.“

„Zudem kommt sie mir so bekannt vor; ich muß sie schon irgendwo gesehen haben, und kann mich nur gar nicht besinnen, wo. Wahrscheinlich ist sie in Berlin bei Hofe gewesen. Ja, ja, so wird es sein. Diese Anmuth! Und die Neetzow’s sind eine angesehene Familie in Pommern. Mädchen, Du solltest Dich glücklich schätzen, in Gesellschaft einer so feinen, gebildeten Dame zu reisen.“

Der Abend neigte sich. Man ging auf die Schiffbrücke, den Sonnenuntergang zu sehen. Hier war es, wo die goldne Pracht des Abends und jener mythische Major das heute besonders für Glück empfängliche Her; des Geheimeraths völlig glücklich stimmte. Auch Fräulein Charlotte ließ ihren Unmuth fahren. Sie folgte träumend mit der träumenden Schwester den goldenen und purpurnen Wolken, die Glück verkündend, nach dem Süden hinzogen, nach der Schweiz hin.

Freilich später sollte sie der volle Unmuth wieder fassen. Die mütterliche Freundin war zum Abendessen zurückgekehrt. Sie war sehr still und traurig. Der zartfühlende Geheimerath wagte nicht, durch eine Frage, vielleicht unzart, ihr Herz zu berühren. Er sprach daher nur von seiner morgenden Weiterreise, und daß diese zunächst nach Wiesbaden gehe, wo er bis übermorgen, Sonntag, zu bleiben gedenke, um seinen Töchtern den Genuß eines Sonntagsbadelebens zu verschaffen.

Da bekamen die Augen der Dame wieder ihren schönsten rührenden Schmelz. Neben dem Dunkel des Unglücks leuchtete zugleich ein Strahl der Hoffnung darin.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 622. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_622.jpg&oldid=- (Version vom 10.5.2018)