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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

No. 46. 1856.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Herr Klein.
Vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“
(Fortsetzung.)


Eins wollte sich der Geheimerath Fischer aber gar nicht ausreden lassen. Ueberall in den Gasthöfen und auf den Dampfschiffen begegnete man Reisenden, Herren wie Damen, mit schmalen Schultern, langen Hälsen, langen Gesichtern, langen Nasen, die Gesichter roth, die Nasen mit Rubinen besäet. Er sah ihnen jedes Mal mit Wehmuth nach.

„Schade, Schade,“ sagte er. „Wie doch der Schnaps den Menschen ruinirt. Diese Russen sind an sich ein so kräftiger Menschenschlag, und wie sehen sie aus!“

„Aber, Vater, das sind ja echt englische Gesichter, die der Porter geröthet hat.“

„Russische Schnapsgesichter, ich versichere Dich, Charlotte.“

„Aber, Vater, sehen Sie nur die langen, gebogenen Nasen. Die Russen haben dicke, aufgeworfene Stumpfnasen.“

„Das verstehst Du nicht, mein Kind. Es gibt zweierlei Arten von russischen Physiognomien; die eine mit den langen, die andere mit den dicken aufgeworfenen Nasen. Die Regimenter der Garde werden danach gesondert. In die einen kommen nur langnasige Leute, in die anderen nur stumpfnasige. Die letzteren heißen la garde aux nez retrousseé. Ich weiß das ganz genau. Diese letzteren müssen auch den Schnurrbart in die Höhe gewichst tragen, und wie in dem ganzen Regimente der eine Mann vollkommen wie der andere aussieht, so meint man, ein ganzes Regiment Meerkatzen vor sich zu haben. Die meinst Du; ich aber die anderen von der Sorte, die man hier sieht.“

„Aber, Vater –“

„Aber, Vater! Immer aber, Vater. Ich verbitte es mir. Dies weiß ich nur zu gewiß; ich kenne die Menschen.“

„Wenn der Vater auf Rußland kommt,“ sagte Fräulein Charlotte zu ihrer Schwester, „so duldet er gar keinen Widerspruch. Diese Engländer mit Russen zu verwechseln! Und jene häßlichen Judengesichter mit kastilischen Granden! Ach, wenn der Herr Boz-Dickens das gehört hätte, der in seinem englischen Hochmuthe meint, es gäbe nur zwei schöne Volksstämme auf der Erde, die Engländer und die Kastilier, nur wieder mit dem Unterschiede, daß in England die Schönheit sich in der ganzen Race erhalten habe, in Kastilien aber nur noch in einzelnen Familien fortlebe!“

Aber die in Hoffnung lebende und in Furcht schwebende Schwester erwiederte nur: „Ich bitte Dich, verdirb dem Vater die gute Laune nicht!“

Das wagte Fräulein Charlotte denn auch bei einer anderen Gelegenheit nicht, wie oft ihr das Herz bersten und der Kopf zerspringen wollte.

Zwischen Bingen und Mainz war auf einer Nebenstation eine einzelne Dame in das Dampfboot eingestiegen. Sie war zwar bescheiden, aber desto anständiger, und ganz wie eine Dame aus den höheren Ständen gekleidet. Sie war im mittleren Alter, vielleicht schon eine angehende Vierzigerin. Aber sie war noch sehr wohl erhalten. Ihr Teint war frisch und rein, wie Milch und Blut; ihr blaues Auge war zwar etwas fatiguirt, glänzte aber in einzelnen Augenblicken in einem wunderbaren Schmelz; in andern Augenblicken war dieses Auge freilich sehr bekümmert, aber darum nicht minder schön. Zu dem Alter paßten, und selbst zu dem bekümmerten Blicke, standen nicht schlecht die runden, etwas vollen Formen des Körpers, besonders ein paar schöne, schneeweiße, runde Arme, die aus den weiten Aermeln des schwarzseidenen Reisekleides mit unbewußter Koketterie hervorsahen und die Blicke fesselten und blendeten. Das Wesen der Dame war einfach, wie ihr Anzug. Ihr Benehmen war sicher, als wenn sie gewohnt sei, sich in der großen Welt zu bewegen, und hatte doch wieder eine gewisse Schüchternheit. Man mußte indes; nur zu gern geneigt sein, diese mit ihrem verkümmerten Blick in Verbindung zu bringen. Sie schien unglücklich zu sein.

Den Geheimerath Fischer zog ihr Anblick sofort an. Er mußte sie oft und viel ansehen, und wußte selbst nicht, warum. Aber er mußte sie nicht auf eine abstoßende, übelwollende Weise angesehen haben, denn nicht weit von Mainz trat die Dame, der seine Blicke nicht entgangen sein mochten, auf ihn zu, und sagte zu ihm:

„Mein Herr, Ihr würdiges Wesen flößt mir Vertrauen ein. Ueberdies sind ohne Zweifel diese beiden liebenswürdigen jungen Damen Ihre Töchter?“

Sie sprach mit einer Stimme, die so rein wie ihr Teint, und so schmelzend wie der Blick ihres Auges war.

„Unterthäniger,“ erwiederte der Geheimerath. „Gewiß; ich reise in Gesellschaft meiner beiden Tochter.“

„So darf eine Unglückliche eine Bitte an Sie wagen?“

Der Geheimerath zögerte doch mit einer Antwort. Die Dame aber fuhr mit ihrer schönen unglücklichen Stimme fort.

„Ich muß Ihnen mit völlig offenem Vertrauen entgegenkommen. Ich bin die Frau von Neetzow auf Sanden bei Lauenburg in Pommern.“

„Ah, wir sind also Landsleute, gnädige Frau!“

„Ich bin Wittwe und eine unglückliche Mutter.“


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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 621. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_621.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2017)