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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

und verschlossen. Wenn man bei Manchem fragt: „Wo ist die Offenheit und Herzlichkeit hin?“ so ist die Antwort: „Sie ist begraben unter tausend Komplimenten, die ihm von Jugend auf eingeprägt worden sind, und die das Herz mit einer Art Glasrinde überzogen haben, so daß er wohl nach allen Seiten hin schimmert, aber nicht fühlt. Nichts ist natürlicher und häufiger, als daß durch Verfrühungen der Höflichkeitsformen glatte und kalte Menschen gebildet werden. Oft verbindet man mit dieser Unterweisung in den Komplimenten auch eine Art Standeseinweihung.

Das Kind wird bei Zeiten darauf hingewiesen, daß man nicht gegen Jedermann auf gleiche Weise sich benehmen, daß man fein unterscheiden müsse, wer hoch, gering, fremd, bekannt oder befreundet sei. Wie traurig ist es aber, die ungeschminkte Herzlichkeit des Kindes, seinen echt menschlichen, unverdorbenen Sinn und sein unschuldiges Vertrauen in der Blüthe zu zerstören! Wird denn das Leben nicht zeitig genug seine Unterscheidungszeichen, seine Frage- und Ausrufungszeichen machen?

Verfrüht wird auch das Lernen. Es gibt viele Eltern, die es nicht erwarten können, ihr Kind als kleines Genie leuchten zu sehen, die ihm mit dem vierten oder fünften Jahre das A B C schon in die Hand geben, und überglücklich sind, wenn der kleine Mund recht viel aufzusagen weiß. Aber die Guten bedenken nicht, daß jede geistige Anstrengung vom Körper zehrt, und ihm mehr raubt, als man vielleicht denkt. Wird der Geist vor der Zeit zu sehr beschäftigt, so ist ein schleichendes Siechthum gar oft die Folge. Verfasser dieser Zeilen kannte zwei Kinder, welche mit vier Jahren lasen, sangen, schrieben etc., mit sieben Jahren waren sie todt. Aber auch zugegeben, daß dieses Kraftentschwinden, welches durch’s Lernen herbeigeführt wird, nicht so bedeutend sei, so sind doch andere Uebel im Anzuge. Wenn das Lernen so gar zeitig angefangen wird, so betreibt man es in der Regel spielend und mehr zum Zeitvertreib. Heute etwas, morgen nichts, übermorgen ein Wenig. So entsteht nach und nach eine gewisse Zerstreuung, und nicht selten empfindet das Kind später am Lernen, wenn es Ernst damit wird, Ueberdruß und Unlust. Neugeborne verbirgt man eine Zeit lang vor dem Lichte. Auch von dem geistigen Lichte, vom Lernen, sollte man die Kinder so lange zurückhalten, bis sie körperlich schon etwas empor- und aufgewachsen sind.

Zu den gefährlichsten Verfrühungen gehört ferner das Leiten der kleinen Kinder durch Gründe. Es thut manchem zarten Mutterherzen weh, ihrem Liebling schlechthin etwas zu versagen oder zu gebieten, und wenn sie sieht, daß der kleine Kopf widerstrebt, so möchte sie ihm gern zu Hülfe kommen. Mitunter geschieht dies durch Zuckerbrezeln und Pfeffernüsse, und dadurch wird dem Kinde der geistige und der körperliche Magen verdorben. Näschereien machen weichliche aber auch eigennützige und lohnsüchtige Naturen, die keinen guten Gedanken denken können, ohne ihn auf der Wage ihrer Spekulation gewogen zu haben. Aber bisweilen sucht das Mutterherz auch durch Gründe den Gehorsam in Gang zu bringen. Das ist viel gefährlicher als der Zucker- und Pfefferkuchenregen. Erstens liegen Gründe, diese philosophischen Pulver, dem kindlichen Verstande noch zu fern, es handelt noch zu wenig nach vorausgesteckten Zwecken, und ist auch nicht im Stande Gründe, die Zwecke, Folgen etc. berücksichtigen, zu verstehen. Aber mag es sie auch verstehen, so können sie durchaus noch nicht auf seinen strebenden und in mannigfaltigen Neigungen sich entwickelnden Geist wirken. Sie geben Worte, und was sind Worte gegen die munter pulsirende Lebenskraft des Kindes! Gebt dem Kinde ein halb Schock Gründe für das Lernen einiger Vokabeln an, mit einer einzigen Erinnerung an ein Vogelschießen oder andere Kinderspiel schlage ich sie alle nieder. „Für Kinder,“ sagt Jean Paul, „gibt’s keine andere Sittenlehre, als Beispielerzähltes oder (viel besser) -sichtbares, und es ist erzieherische Narrheit, daß man durch Gründe Kindern nicht diese Gründe, sondern den Willen und die Kraft zu geben meint, diesen Gründen zu folgen.“ Und fährt man fort, die Kinder überall durch Gründe bestimmen zu wollen, so versuchen sie zuletzt auch ihre Gründe, und disputiren sich auf die schönste Weise von dem Gehorsam los. Solche frühkluge und naseweise Kinder sind ein wahres Hauskreuz. Daher, Ihr Lieben, seid vorsichtig, und spart das gründliche Verhandeln bis in’s spätere Alter Eurer Kinder auf.

Wenn der Verstand eine gewisse Reife hat, dann haben Gründe ein Gewicht für das Kind. Im zarten Alter muß das elterliche: Du sollst! den kategorischen Imperativ im Kinde vertreten. Die Zugaben und Steigerungsmittel liegen auf dem Gesichte und in der Stimme der Befehlenden, und wir haben ja auch genug Kinder, die durch einfach freundliche und ernste Blicke oder Worte sich vollkommen bestimmen lassen. Und diese, obwohl ihr Gehorsam eigentlich nur auf der Autorität ruht, welche der Erzieher bei ihnen hat, sind viel zuverlässiger, als die durch Gründe gezogenen. Die Ehrfurcht und Achtung welche das Kind vor den Eltern bekommen hat, wechselt nicht so leicht, aber die Gewalt der Gründe ist für das Kind auch in späterer Zeit oft vorübergehend.

Doch denken wir noch an eine pädagogische Sünde, die damit zusammenhängt. Es ist die verfrühte Aufklärung. Der liebe Gott hat es weislich so eingerichtet, daß der Baum erst blüht, ehe er Früchte trägt. Wir freuen uns der Blüthen, obgleich wir wissen, daß sie einst abfallen und der Frucht Platz machen müssen. So hat auch der Mensch, das Kind sein Blüthenalter. Es ist die Zeit der frühen Kindheit, die Zeit der Phantasie. Wer denkt nicht noch mit seligem Gefühl an jenes Morgenroth, wo die Nebelbilder der Märchen und Fabeln uns entzückten, wo wir überall Wunder und stille Geheimnisse sahen und kindlich erbebten dabei, wo das Christfest einen solchen Zauber ausübte, als käme der liebe Gott selbst und bescheerte, wo der Glaube mit seinem Feuer sich so innig an die heilige Geschichte anschloß, und wo man seine Hände in reiner Andacht faltete. Aber dieser Kindermorgen, er wird heutzutage so oft seines Schmuckes beraubt. Man will die Kinder vor der Zeit schlau, pfiffig und gescheidt machen, klärt so viel als möglich auf, und streift dabei die schönsten Blüthen der Kinderpoesie ab. Ja, wenn dann der Knabe lacht, wenn es heißt: der heilige Christ bescheert, und nüchtern hinzusetzt: die Eltern sind es nur! wenn er mit der Miene eines stolzen Philosophen sagt: es gibt keine Engel, wenn er die freundlichen Märchen in Kinderbüchern bespöttelt, wenn er über geheime Verhältnisse des Lebens schon einen Forscherblick zeigt, da jubelt wohl mancher Erzieher, indem er bei sich denkt: mein Junge hat den Kopf auf dem rechten Flecke. Wir können nicht mit jubeln, wir halten das Kind für einseitig erzogen, um seinen Jugendhimmel betrogen und wenig geschickt, in der Welt einmal energisch und lebenskräftig zu wirken. Auf eine so nüchterne Jugend folgt sehr oft ein schales Jünglings- und ein kraft- und saftloses Mannesalter. Die Erfahrung redet und spricht für mich, wer Ohren hat zu hören, der höre sie.

Wir könnten jetzt noch manche Sünde der Verfrühung nennen, wir könnten zeigen, wie man Leidenschaften und Neigungen verfrüht im Kinde durch zu zeitiges Bekanntmachen mit Genüssen, die nicht für das Kind passen; wir könnten zeigen, wie dadurch der Charakter des kindlichen Frohsinnes eine falsche, grobe, sinnliche Färbung erhält, so daß Bogumil Golz Recht hat, wenn er sagt: „Das weiß der Henker, auch die Kinder verstehen heute nicht mehr so glückselig zu sein, als sonst, ihre Spiele verlieren an Einbildungskraft und Witz;“ wir könnten nachweisen, wie die gefährlichsten Triebe oft durch Ammenthorheiten oder Nachlässigkeiten der Erzieher vor der Zeit sich einstellen, allein es möchte des Räsonnirens zu viel werden, und die Geduld unserer lieben Leser ausreißen. Und so wollen wir das nächste Mal von dem Sündenregister des Hauses absehen, und ein freundliches Bild aus demselben aufrollen.




Neuenburg nach dem 3. September.

Mancher deutsche Reisende, deren dieses Jahr ganz besonders große Schaaren die Schweiz durchzogen, wird, so glaubte ich, gegen seinen ursprünglichen Plan noch nachträglich Neuenburg mit hineingezogen haben, um neben seinen Wahrnehmungen von 1848 und 1849 einen vergleichenden Blick auf eine einem Royalismusaufstande gegenüber siegreiche republikanische Staatsgewalt zu werfen. Allein ich fand es anders. Obgleich ich nur etwa vierzehn Tage nach dem berüchtigten Royalistenputsch nach Neuenburg kam, fand ich in dem ersten Gasthofe beinahe keinen Fremden, und die Straßen durchaus nur von dem gewöhnlichen, nicht sehr bedeutenden

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 616. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_616.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)