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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

einen desto leichteren, höheren Schwung zu geben. Auch die beiden Berliner Geheimerathstöchter träumten und machten Pläne; ernst und traurig die ältere, fröhlich und lustig, nach ihren Mienen, die jüngere.

Es wurde rasch und laut die Hausklingel gezogen; die beiden Mädchen fuhren fast in die Höhe. Gleich darauf meldete der Bediente:

„Herr Kammergerichtsassessor Hartmann!“

Fräulein Charlotte wurde erst roth, dann blaß.

„Mein Gott, welche Unvorsichtigkeit! Der Vater kann jeden Augenblick zurückkommen.“

Der Kammergerichtsassessor Hartmann, ein junger, hübscher Mann, mit einem nicht minder kecken und schelmischen Gesichte, wie Fräulein Charlotte, war schon eingetreten. Die ältere Schwester Louise hatte gleichzeitig mit einem schweren Seufzer das Zimmer verlassen.

„Herr Hartmann, wie können Sie –?“

„Fräulein Charlotte, ich bin sehr eilig.“

„Ich bitte darum.“

„So, Sie bitten darum, mein Fräulein?“

„Ja, ja, Sie hören es.“

„Fräulein, ich erhalte so eben einen Brief, in dem dieser Brief an Sie eingeschlagen war.“

Er übergab ihr einen Brief. Fräulein Charlotte besah Aufschrift und Petschaft. Sie erblaßte und zitterte.

„Mein Gott, der Brief kommt –?“

„Aus der Schweiz, mein Fräulein.“

„Von Herrn –?“

„Von meinem Freunde Thilo.“

„Er ist ja in Amerika.“

„Seit acht Tagen in der Schweiz.“

„Welche Tollkühnheit.“

„Die Liebe, mein Fräulein! – Die Liebe, Fräulein Charlotte, wagt Alles.“

„Auch die Liebe des Kammergerichtsassessors, mein Herr?“

„Liefert mein Freund nicht den Beweis?“

„Er war Kammergerichtsassessor.“

„Fräulein, darf ich heute Abend wieder herkommen?“

„Wozu, mein Herr?“

„Um Ihre Befehle zu holen. Ich reise morgen nach der Schweiz.“

„Meine Schwester wird Sie annehmen.“

„Nicht auch Sie?“

„Wir werden sehen.“

Der junge Mann nahm die Hand der jungen Dame und drückte sie an seine Lippen. Er mußte so etwas von einem Gegendrucke gefühlt haben, denn in seinem Gesichte strahlte Glück, als er das Zimmer verließ, und sie sah ihm erröthend und träumend nach.

Sie brach den Brief auf. In einem Couvert an sie lag ein Brief für ihre Schwester; sie rief sie wieder herein.

„Louise, ein Brief für Dich.“

„Für mich? Von wem?“

„Setze Dich zuerst auf das Sopha, Du möchtest mir sonst hier mitten in der Stube umsinken.“

„Von ihm?“

„Von ihm.“

Sie führte die Schwester zum Sopha, gab ihr den Brief und verließ das Zimmer, um die Lesende nicht zu stören, auch wohl selbst nicht gestört zu werden. Sie machte Pläne, und um solche ungestört machen zu können, mußte sie wieder eine weibliche Arbeit haben, ging in das Visitenzimmer, und ordnete und putzte.

Nach einer Weile kam der Geheimerath Fischer nach Hause. Er war verstimmt, ging in das Familienzimmer und sah dort seine älteste Tochter, blaß, abgehärmt, die weinenden Augen gen Himmel gerichtet, und wurde noch verstimmter, ging dann weiter, um seine jüngste Tochter zu suchen. Wenn er früher zu Hause kam, hatte er seine Frau gesucht, um auszusprechen, was er auf dem Herzen hatte. Jetzt war Fräulein Charlotte die Hausregentin. Er fand sie mit Ordnen und Putzen noch beschäftigt; mit ihren Plänen schien sie im Reinen zu sein.

„Charlotte, die Louise sitzt wieder allein.“

„Leider, Vater.“

„Sir weint wieder.“

„Leider, Vater.“

„Die verdammte Revolution! Auch diese Kammergerichtsassessoren werden alle Tage naseweiser. Man kann bald gar nicht mehr zu dem Schwarze gehen.“

„Ich weiß etwas Anderes, wohin Sie gehen könnten.“

„Wohin denn?“

„Vater, für die arme Louise muß etwas geschehen.“

„Was soll das?“

„Sie härmt sich ab; ich will Sie nicht ängstigen, aber wenn nicht bald –“

„Ja, ja, Du hast Recht. Sie ist zwar verblendet und sollte sich im Grunde glücklich schätzen; aber man muß etwas für Sie thun.“

„Und auch Sie, lieber Vater, bedürfen der Zerstreuung.“

„Ich?“

„Sie sind mager geworden.“

„Wer kann bei solchen Zeiten fett werden?“

„Sie sind noch nie aus Berlin herausgekommen.“

„O doch, ich war in Köpenick und Potsdam.“

„Aber nicht weiter. Väterchen, lassen Sie uns eine Reise machen.“

Der Geheimerath erstarrte fast. „Mädchen, bist Du toll?“

„Man sieht so viel Schönes!“

„Schönes? Außerhalb Berlin? Nichts geht über Berlin.“

„Bitte, lieber Vater.“

„Nichts da. Ich will Euch lieber eine Sommerwohnung Miethen.“

„Eine langweilige Berliner Sommerwohnung.“

„In der Thiergartenstraße beim Hofjäger; oder, wenn Ihr das Wasser vorzieht, bei Moabit, bei Charlottenburg, bei dem Beer’schen Etablissement; wo Ihr wollt.“

„Ach, ich hatte mir das Reisen so schön gedacht, für Sie, und die arme Louise. Wir hätten schöne Gegenden gesehen.“

„Unser Thiergarten ist eine sehr schöne Gegend.“

„Wir hätten hohe Berge erstiegen.“

„Ich fahre mit Euch nach den Pichelsbergen.“

„Wir wären auf reizenden Seen gefahren.“

„Ich miethe Euch eine Gondel auf dem Rummelsburger See.“

Die Tochter stampfte über solche ungewohnte Hartnäckigkeit mit dem Fuße. Den Leser, der hier vielleicht an die Sitte und Tugend der Berliner Bürgerfamilie zurückdenken wollte, bitte ich zu erwägen, daß er einer Scene aus dem Leben einer Berliner Geheimerathsfamilie beiwohnt.

„Ich wenigstens gehe nicht mit,“ sagte Fräulein Charlotte, während sie mit dem Fuße stampfte; „weder in den Thiergarten, noch zu den Pichelsbergen, noch zu –. Sie werden die arme Louise da draußen allein begraben müssen, im Sande oder gar in jenen trüben Wellen. Das –“

„Aber, Charlotte, sprichst Du im Ernst?“

„Zweifeln Sie daran?“

„Wohin sollten wir denn reisen, mein Kind?“

Endlich konnte Fräulein Charlotte triumphiren. „Ah, Vater, das ist mir ganz gleichgültig. Ich suche nur Ihre und Louise’s Zerstreuung.“ Sie erschrak daher auch nicht, als der Vater fragte: „Meinst Du denn nach Mecklenburg oder Pommern?“

„Es ist so sehr flach da,“ antwortete sie nur leicht.

„Aber es gibt dort fruchtbare Gegenden, und man sieht das Meer. Man hat also da doch etwas, was man bei uns in Berlin nicht findet.“

„Aber auch schreckliche Langeweile.“

„Welche Gegend würdest Du denn vorziehen?“ fragte der einmal vom Zuge des Nachgebens fortgerissene Vater.

„Was meinen Sie zu einer Rheinreise, Vater?“

„Es soll hin und wieder ganz hübsch dort sein.“

„Und bei Basel kommt man in die Schweiz.“

Der Geheimerath fuhr doch etwas auf. „Nicht in die Schweiz. Daraus wird nichts.“

„Es ist so schön dort, Vater.“

„Das verstehst Du nicht.“

„Ich bitte Sie, Vater –“

„Der naseweise Bursch, der Kammergerichtsassessor Hartmann, will auch hin.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 607. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_607.jpg&oldid=- (Version vom 5.3.2017)