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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

leben! Er, der Sohn einer Berliner Bürgerfamilie, dem folglich gleichfalls nichts über Berlin ging, und der daher noch nicht weiter gekommen war, als nach Köpenick und Potsdam, wo es königliche Schlösser zu sehen gab. Seine Frau, die aus einer gleichen Berliner Bürgerfamilie stammte, und die zudem schon als Frau Stadtgerichtsräthin unter ihren Freundinnen eine Art höheren Wesens war. Das hieß das Glück, Kammergerichtsrath und Kammergerichtsräthin zu werden, gar zu theuer erkaufen. Auf höheren Gehalt brauchte man nicht zu sehen. Die Familie Fischer war reich, und auch Madame Scholz, die Mutter der Frau Stadtgerichtsräthin, trug ihre goldene Halskette, groß und schwer wie eine Hemmschuhkette.

Fischer wurde nicht Kammergerichtsrath, bekam aber eine andere Genugthuung dafür. Er hatte einen milden Sinn, und der Herr Justizminister war der Ansicht, daß man zu Criminalrichtern nicht eben hartherzige Menschen aussuchen müsse. Freilich herrschte damals auch noch die Ansicht, daß zu der Criminalrechtspflege eben nicht die ausgezeichnetsten Köpfe verbraucht werden dürften. So wurde Fischer als Mitglied in die Criminaldeputation des Stadtgerichts oder in das Criminalgericht von Berlin versetzt. Er hatte sich schon immer gern auf Menschenkenntniß gelegt, und Lavater’s physiognomische Fragmente waren sein Lieblingsstudium. Jetzt konnte er ein ganzer Menschenkenner werden. Dabei erfuhr er täglich durch die Criminalkommissarien des Polizeipräsidiums was es Allerneuestes in der Stadt gab, und er hatte des Abends, wenn er zum Weißbier ging, oder wenn bei den Familien Fischer und Scholz Gesellschaft war, die neuesten und wichtigsten Neuigkeiten und dabei zugleich die grausigsten Criminalgeschichten zu erzählen, was Alles damals von ganz besonderem Interesse war, weil die Berliner Zeitungen zu jener Zeit über Berlin und Inland nichts schreiben durften, als was vorher die Staatszeitung geschrieben hatte, die Staatszeitung aber eben nichts darüber schrieb. Im Uebrigen trösteten er und die Familien Fischer und Scholz sich damit, daß der bürgerliche Justizminister nicht ewig Justizminister bleiben könne, und daß wieder ein Adliger an seine Stelle kommen und dann auch die alten, bessern Zeiten zurückkehren würden.

So war er immerhin ein glücklicher Mann, zugleich ein glücklicher Gatte und Vater. Seine Frau vergaß nie, daß sie nur darum Stadtgerichtsräthin und mithin unter ihren Freundinnen ein Wesen höherer Art vorstellte, weil ihr Mann Stadtgerichtsrath war, und er war wieder dankbar für diese dankbare Gesinnung seiner Frau. Er hatte zwar keinen Sohn, auf den er den Namen Fischer vererben konnte; allein dieser Name starb ohnehin nicht aus, dafür hatte er zwei liebenswürdige Töchter: Louise hieß die ältere, Charlotte die jüngere.

So wurden zu damaliger Zeit fast alle Töchter in den Berliner Bürgerfamilien getauft. Louise nach „unserer hochseligen Königin,“ Charlotte nach „unserer Kaiserin.“ „Seine hochselige Königin“ hat der Berliner auch jetzt noch nicht vergessen; die Kaiserin von Rußland nennt er aber nicht mehr „seine Kaiserin.“

Beide Mädchen hatten eine vortreffliche Erziehung genossen, zuerst in einer Schule, die „sogar von einer adeligen Dame in der Friedrichsstraße“ gehalten wurde; dann in dem Bormann’schen Institute in der Schützenstraße. In ihrem neunzehnten Jahre war Louise glückliche Braut; Charlotte, kaum sechzehn Jahre alt, versicherte, an das Heirathen noch nicht zu denken.

Da kam das unglückliche Jahr 1848, und zerstörte auch einen großen Theil des Glückes des Stadtgerichtsraths Fischer. Er war guter Patriot. Schon über das Patent vom 3. September 1847, die Bildung des vereinigten Landtages betreffend, hatte er deshalb den Kopf geschüttelt. Preußen ein konstitutioneller Staat! Wer könnte sich Friedrich den Großen als konstitutionellen König denken? Weder seine Frau noch seine Kinder hatten deshalb hingehen und zusehen dürfen, als der vereinigte Landtag das erste Mal eröffnet wurde. Als er aber zum zweiten Male im Anfange des Jahres 1848, zusammenberufen war, hatte der in der Luft dieses Jahres liegende Ansteckungsstoff des Revolutionsfiebers wenigstens seine Frau schon so inficirt, daß sie trotz seinem Verbote hinging, die Eröffnungsfeier anzusehen. Es erging ihr indeß, wie dem verewigten Landtage; sie erkältete sich, bekam eine Lungenentzündung, und starb nach kurzer Frist.

Im März brach die Revolution aus, in die der Herr Stadtgerichtsrath sich gar nicht finden konnte; und im April traf ihn ein anderes Unglück. Der Bräutigam seiner Tochter, ein Kammergerichtsassessor von Thilo, hielt sich zur demokratischen Partei; dies empörte ihn. Eines Abends, als der junge Mann, wie täglich, bei ihm zum Abendessen war, warf er ihm seine nichtswürdigen Gesinnungen, und daß alle Demokraten Verräther seien, vor, und als der Hitzkopf das nicht zugeben wollte, warf er ihn selbst zur Thüre hinaus, alles Bittens, Flehens und Weinens seiner Töchter ungeachtet; ja machte am andern Morgen den beiden Familien Fischer und Scholz feierlich bekannt, daß die Verlobung seiner ältesten Tochter Louise mit dem Kammergerichtsassessor von Thilo aufgehoben sei.

Sie blieb aufgehoben. Wie nachgiebig der gutmüthige Mann in allen andern Dingen war, namentlich nach dem Tode seiner Frau, der jüngeren Tochter gegenüber, in Beziehung auf die Revolution und Alles, was damit zusammenhing, war er in dieser Sache unerbittlich und unerschütterlich. Ein Demokrat könne sein Kind nur unglücklich machen, dabei blieb er. Gewissermaßen sollte er eine Rechtfertigung erhalten. Der Kammergerichtsassessor von Thilo, ein reicher junger Mann, hatte seinen Abschied genommen, um ganz unabhängig zu sein, und sich nun offen in den Strudel der Politik geworfen, und von diesem so weit forttreiben lassen, daß er in Dresden, in der Pfalz und in Baden mitkämpfte. Es ward daher eine Untersuchung gegen ihn eingeleitet, und er wurde wegen Hoch- und Landesverrath zum Tode verurtheilt. Zwar nur in contumaciam, denn er war glücklich in das Ausland entkommen, und hatte auch sein Vermögen, ehe es mit Beschlag belegt wurde, aus dem Lande ziehen können. Aber der Stadtgerichtsrath Fischer hatte es jetzt schwarz auf weiß, daß er ein Verräther sei, der seine Tochter nothwendig hätte unglücklich machen müssen. Wie sehr er selbst dazu beigetragen hatte, den jungen Mann, der seine Braut eben so leidenschaftlich liebte, wie sie ihn, unglücklich zu machen, daran dachte er nicht.

Die arme Louise härmte sich indeß ab. Die Revolution wurde zwar bezwungen, aber von dem was mit und an ihr hing, blieb so Manches! Namentlich arbeiteten bei dem Criminalgerichte immer eine Menge Kammergerichtsassessoren, und der Stadtgerichtsrath Fischer konnte nun einmal nicht umhin, wie den Namen Thilo, so den Titel Kammergerichtsassessor mit der Revolution zu identificiren. Allerdings ein Irrthum, wie man zugeben muß. Zudem wurde noch immer kein adeliger Justizminister wieder angestellt, und er hatte mithin keine Aussicht, Kammergerichtsrath zu werden. Ja, durch die Verordnung vom 2. Januar 1849 war gar der Name Kammergericht ganz beseitigt, und das Kammergericht zu Berlin hieß fortan Appellationsgericht, wie jedes Obergericht in der Provinz, und seine Mitglieder waren einfache Appellationsgerichtsräthe.

Darüber faßte ihn eine Art Verzweiflung; er nahm seinen Abschied, erhielt diesen, und zwar, da er lange gedient hatte und ein patriotischer Mann war, auch keine Pension verlangte, sogar mit dem Titel Geheimer Justizrath.

Berliner Geheimerath! Ueber ihn ging jetzt nur sein Präsident, wenn er noch einen gehabt hätte, ein Minister – eigentlich nur ein vormärzlicher –, ein General, ein Prinz und der König. Aber er war dennoch nur halb glücklich. Die Gesundheit seiner ältern Tochter schwand immer mehr dahin, und die jüngere war in der neueren Zeit manchmal so sonderbar übellaunig geworden. Wichtige Neuigkeiten konnte er nicht mehr erzählen, sondern sich nur welche erzählen lassen, und zwar in Wein- oder Bierhäusern, bei Gaspari in der Königsstraße oder bei Schwarze an der Leipziger- und Friedrichsstraßenecke, und da waren es nur die naseweisen, revolutionairen Kammergerichtsassessoren, die sie erzählten.

Das Kammergericht zu Berlin war unterdessen wieder hergestellt, und von Anbringen alter, und Sammeln neuer Menschenkenntnis; war gar nicht mehr die Rede. „Die verdammte Revolution!“ weiter hörte man fast gar nichts mehr von ihm.

So war das Jahr 1852 herbeigekommen. Es war im Sommer dieses Jahres, als eines Mittags gegen ein Uhr die beiden Töchter des Geheimeraths Fischer in dem Familienzimmer mit weiblichen Arbeiten beschäftigt saßen. Der Vater war bei Schwarze, um „ein Bairisches“ zu trinken. Die Arbeiten der Damen sind dafür da, Träumen und Plänen der schönen Arbeiterinnen

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