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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

betrachte, Neapel gibt den Eindruck einer großen “Stadt im vollsten Sinne des Wortes. Nichts ist unscheinbarer als die Front, welche Neapel nach der Straße von Capua macht, und gleichwohl wird man auch auf dieser Straße schon von weitem gewahr, daß man eine Weltstadt vor sich hat; ein solches Gewimmel des Verkehrs, wie es sich auf diesem breiten stattlichen Pflaster bewegt, kann nur von einem Orte ausgehen, der durch Volksmenge und Reichthum einen Platz einnimmt, wie er nur wenigen Städten der Erde gegeben ist. Kaum hat man das Thor hinter sich, und wäre es auch das der entlegensten Vorstadt, so vervielfältigen sich die Kennzeichen des großstädtischen Lebens, Kennzeichen, welche oft weder einen Namen haben, noch sich beschreiben lassen, die aber trotz ihrer schwer greifbaren Natur für ein geübtes Auge untrüglich sind. Wer den Toledo, den Schloßplatz und Chiaja durchwandert, dem wird, wenn er an das vielleicht einmal gesehene Rom zurückdenkt, „die Hauptstadt der Welt“ (so lieben die Römer ihre Heimat zu tituliren) vorkommen wie „ein hinter der Kultur der Zeit zurückgebliebenes Dorf“ Rom ist eine ehrwürdige Matrone, welcher man eigentlich nur aus Dankbarkeit, oder wohl gar blos aus alter Gewohnheit den Hof macht; Neapel ist das jugendlich-üppige Weib, falsch aber schön, mit lügnerischen Rosenwangen angethan, trotz des fressenden Giftes in seinen Adern.

Von der Seeseite her, oder von irgend einem Punkte seines eigenen Ufers aus gesehen, erscheint Neapel noch weit größer, als es ist. Von Posilipo bis Torre del Greco in einer Ausdehnung von wenigstens vier Stunden, zieht sich um den Rand des Golfes eine Kette von großen und kleinen Ortschaften, welche untereinander und mit Neapel so eng zusammenhängen, daß kein Zwischenraum die verschiedenen Ortsgebiete auch nur errathen läßt; der ganze ungeheure Halbkreis, vom Fuße des Camaldulenserberges bis zum Fuße des Vesuv, bildet für das Auge nur eine einzige prächtige Stadt. In der Ebene, welche zwischen diesen beiden Bergen an das Meer stößt, liegt die Hauptmasse des eigentlichen Neapel, während Vorstädte, Landhäuser, Lustschlösser und Kastelle bis zu einer beträchtlichen Höhe des Camaldulenserberges hinaufsteigen.

Der Kern der Stadt, das alte Neapel, ist eng gebaut und finster, aber von geradlinigen Straßen durchschnitten, reich an stattlichen Wohngebäuden und selbst in seinen entlegensten und ärmsten Theilen ohne Spur jenes Anstrichs von Verfall und Verödung, welcher wenigstens fünf Sechstheile Roms charakterisirt. Die entferntesten Winkel der Stadt sind belebt, überall herrscht die Bewegung und der Lärm des Verkehrs oder des Müßigganges; die Ruhe, die Stille, die Einsamkeit haben innerhalb der Mauern Neapels keine Stätte. In den jüngern Stadttheilen gibt es einige Straßen und Plätze, in welchen Eleganz und Geschmack mit einer seltenen architektonischen Pracht vereinigt sind; was aber Neapel vor allen Städten der Welt voraus hat, das ist seine Riviera die Chiaja – eine endlose Reihe von Palästen nach dem Meer zugekehrt, von welchem sie durch die köstlichen Anlagen der Villa Reale getrennt sind, eines öffentlichen Spazierganges, dessen Schönheit Bewunderung erregen würde, auch wenn er nicht der einzige wäre, den Neapel besitzt. Wenn man die Länge der Pariser Rue Tivoli verdoppelt, wenn man die sternenartige Einförmigkeit ihrer Häuser durch geschmackvolle Mannigfaltigkeit ersetzt, wenn man überdies die Seine zum Meere erweitert und auf der andern Seite einen prachtvoll decodierten Felsenberg aufgepflanzt, alsdann hat man ein Bild, welches der Chiaja einigermaßen ähnlich sieht. Ein endloser Strom von Wagen und Rossen braust über die wohlgeformten blanken Lavaplatten dahin, welche die ganze Breite der Chiaja wie aller andern neapolitanischen Straßen ausfüllen, die vergoldete Jugend, zahlreicher und prunkhafter als an jedem andern Orte, trägt früh und spät ihre feinen Gesichter und ihren Müßiggang zur Schau, von den benachbarten Höhen grüßt ein tausendfarbiger Frühling in die glänzende Stadt herunter, und der Himmel lächelt der Welt und den Menschen mit der Miene göttlicher Seligkeit.

Der Schloßplatz und noch einige andere Palaststraßen sind prächtig. Auch der Largo di Monte Oliveto hat seine Schönheiten, seinen Springbrunnen und eine Bronzestatue Karl’s II., nicht minder der, Heiligegeistplatz (Largo dello Spirito santo) mit einem halbrunden, reich mit Statuen geschmückten Prachtbau zu Ehren Karl’s III. Auf dem größten von allen, Largo del Mercato, zeigt man noch jetzt die Stelle, wo der letzte des berühmten deutschen Kaisergeschlechts der Hohenstaufen, Konradin, enthauptet ward. „Das Glück war niemals mit den Hohenstaufen,“ singt Raupach. Sie hatten das Unglück, in Neapel und sonst von Bourbonen verdrängt, und das noch größern, von Raupach besungen und von Herrn von Raumer in endloser Gelehrsamkeit und unausstehlicher „Klassicität“ beschrieben zu werden.

Die Hauptmerkwürdigkeiten Neapels bestehen neuerdings in Festungen, Gefängnissen, Kirchen und Klöstern, in eingekerkerten Bibliotheken hier von 150,000, dort von 100,000, anderswo von 50,000 Bänden, mit berühmten alten Manuskripten und Büchern, die aber Niemand an’s Tageslicht ziehen darf, weil darin, in Büchern vor Jahrhunderten und Jahrtausenden geschrieben, etwas Mißliebiges stehen könnte. Der Hauptfortifikationen gibt es sechs, darunter besonders die sechseckige Sternenschanze St. Elmo, von einem Hügel oben die ganze Stadt mit Kanonenaugen überwachend, mit in Felsen gehauenen Schlupfwinkeln, Gräben, Minen, die bis weit in die Stadt hineinlaufen sollen, Kasernen, Pulver- und Kugelfelsenkellern, kurz mit Allem, was zur Aufrechthaltung der „Ordnung und Ruhe“ nöthig ist. Auch die neue Festung (Castello nuovo) am Hafen und neben der Wohnung des herrschenden Bourbonen, und das auf einer Erdzunge weit in den Hafen hinausdrohende Castello nuovo und andere Festungen in der Nähe und Ferne gegen Feinde von Innen und gegen Feinde von Außen sind nicht schlecht mit Schweizern, Kugeln, Kanonen, Felsenwänden und schwarzen, drohenden Löchern versehen. Und das Alles in einer Gegend, die von Gott dazu gemacht scheint, nur Glück und Freude zu sehen.

Aber die Menschen, nur mit dem Blicke der Trauer können sie jenen tausendfarbigen Frühling und das Lächeln des Himmels erwiedern, und ihr Herz verschließt sich krampfhaft gegen die freundliche Ansprache der Natur. Ich spreche nicht von dem gedankenlosen Pöbel, nicht von den Sclaven des Herkommens und der Selbstsucht, ich spreche nicht von Diplomaten, Schweizerofficieren und andern Spekulanten, – ich spreche von Leuten, welche es nicht verstehen, ihr kostbares Ich und seine Genüsse loszulösen von dem Schicksale ihrer Umgebung, von Leuten, die am wenigsten gelernt haben, fremden Jammer auszubeuten zu eigenem Gewinn, ich spreche, wie gesagt, von Menschen, die diesem Namen keine Schande machen. Wer menschlich empfindet, der kann nur trüben Auges in die Pracht dieser Scenerie hineinschauen, der athmet die neapolitanische Frühlingsluft nur mit beklemmter Brust. In diesem paradiesischen Lande, welch ein unglückliches Volk, unglücklich durch ein verhaßtes Regiment, unglücklicher noch durch die eigene Entartung!

Entartung ist indessen wahrscheinlich nicht das rechte Wort, denn seit die Geschichte die Neapolitaner kennt, waren es immer so ziemlich die nämlichen Leute, schlechte Soldaten, schlechte Bürger, schlechte Arbeiter und bei großer Feinheit des Geistes und vielen liebenswürdigen Eigenschaften Menschen von unzuverlässigem Charakter und mehr als zweifelhafter Sittlichkeit.

Ist es das Blut, welches in ihren Adern fließt, ist es die Sonne, die über ihren Häuptern scheint, ist es ein geschichtliches Verhängniß – die Neapolitaner waren von jeher ein bedauernswerthes und gering geachtetes Volk, heute die Beute des ersten besten Eroberers, morgen die Sclaven eines einheimischen Despoten, unabhängig von fremder Herrschaft nur für kurze Augenblicke, bürgerlich frei niemals, aber unablässig gequält von dem ohnmächtigen Verlangen nach einer Nationalexistenz und nach einem gesicherten Rechtszustande. Welches europäische Volt hätte nicht einmal in Neapel geherrscht! Am heutigen Tage sind die Schweizer die Meister von Neapel; drei oder vier schweizerische Regimenter behaupten gegen Millionen Neapolitaner das Gesetz des Absolutismus, welches ohne ihren Schutz von einem Tage zum andern wie Glas zertrümmert werden würde.

Die Neapolitaner haben sich in einzelnen Fällen ausgezeichnet gut geschlagen, aber sie sind nichtsdestoweniger kein tapferes Volk, und der Mangel an Herzhaftigkeit ist allem Anschein nach die nächste Quelle alles ihres Unglückes. Vergebens beruft man sich zur Abwehr jenes Vorwurfs auf den wilden Aufstand gegen die Spanier, auf die wüthende Vertheidigung gegen Championnet – auch der Hindu, das sanfteste, friedfertigste aller menschlichen Wesen, kann durch die Verzweiflung zu einer Gegenwehr aufgestachelt werden, welche dem Heldenthumne ähnlich steht, aber der

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