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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

„Wie, mein Herr, Sie wissen –?“

„Wo ist Henriette? Wo ist Henriette? Im Namen Gottes, mein Herr, führen Sie mich zu ihr!“ rief Adolf, indem er flehend die Hände ausstreckte. „Sie muß wissen, daß ich kein Verbrecher bin, daß ich der Liebe, die sie mir bewahrt hat, stets würdig gewesen!“

Der Kommerzienrath biß sich in die Lippen, seine Hände zuckten krampfhaft zusammen.

„Fragen Sie morgen die Aerzte!“ murmelte er mit eisiger Kälte, um seine Verachtung auszudrücken. „Man leuchte dem Herrn die Treppe hinab!“ befahl er dem Diener. „He, Bediente, alle meine Leute sollen kommen!“ fügte er im Tone des Mannes hinzu, den der Reichthum mächtig macht.

„O, mein Herr, ich begreife Sie!“ sagte Adolf mit unbeschreiblicher Bitterkeit. „Ihr Stolz duldet nicht, daß ein armer Künstler die letzten Liebesworte eines Herzens hört, nach dessen Besitze Sie vergebens strebten. Hinweg, oder ich bahne mir mit Gewalt einen Weg, um meine Ehre bei einer Sterbenden zu retten!“

Ein durchdringender Schrei ließ sich in dem angrenzenden Boudoir vernehmen. Adolf riß, ohne daß man es zu verhindern suchte, die Thür auf – Henriette lag wie leblos auf der Schwelle. Wimmernd sank Adolf neben ihr nieder, und bedeckte ihre kalten Hände mit heißen Thränen und Küsten.

„Henriette, Henriette, höre mich; ich bin kein Verbrecher!“ rief er in herzzerreißenden Tönen aus. „Ich wähnte Dich treulos, aber ich bewahrte meine Liebe zu Dir und meine Ehre! Man hat uns Beide verrathen! Siehst Du noch, daß ich lebe? Hier, hier ist die Rose, das Pfand Deiner Liebe – ich trug sie stets auf meinem Herzen! Henriette, scheide nicht von dieser Erde, ohne noch einmal mir in’s Angesicht §u sehen! Du mußt wissen, daß ich lebe, daß Du mich nicht verachten darfst!“

Starren Blickes und mit angehaltenem Athem lag er auf den Knien, und wartete auf die Wirkung seiner Worte. Da schlug die bleiche Henriette noch einmal die Augen auf. Der junge Mann stieß einen lauten Schrei aus. Dann legte er sanft ihren Kopf in seinen Arm.

„Ich liebe und achte Dich!“ flüsterte sie leise. „Sieh, ich trauere um Dich, weil ich Dich achte! Im Trauerkleide wollte ich aus dieser Welt scheiden. Ich habe viel gelitten – das Herz war stärker als die Eitelkeit und der Verstand – Adolf, kannst Du mir verzeihen?“

„Ich verzeihe Dir, armes, armes Opfer!“ rief er überwältigt aus.

Ein seliges Lächeln schwebte über Ihre bleichen Züge.

„Dank, Dank!“ hauchte sie kaum vernehmbar. „Nun sterbe ich zufrieden, und Gott wird mir verzeihen! Auch Ihnen, Otto, verzeihe ich – Adolf, achte die Rechte des Herzens – mein Gott, ich komme – zu dir!“

Ein tiefer Seufzer entrang sich ihrer Brust – sie war verschieden. Eine peinliche Stille herrschte in den prachtvollen, hell erleuchteten Räumen. Der Kommerzienrath lehnte mit verschränkten Armen in einer Fenstervertiefung, während Adolf die leblose Hülle Henriettens auf das Bett trug, die kalten Lippen noch einmal küßte, die Vorhänge zusammenzog und dann das Vorzimmer wieder betrat. Mit ihm zugleich erschien der Kammerdiener, der seinem Herrn ein Zeitungsblatt überreichte. Otto gab Adolf das Blatt.

„Lesen Sie, mein Herr!“ sagte er kalt. „Jede weitere Erklärung wird dann unnütz sein.“

Adolf las: „Rotterdam … Heute fand die Hinrichtung des Giftmischers Adolf Mölling statt. Der junge Verbrecher war ein deutscher Musikus aus D.; er leugnete die schreckliche That nicht, und bekannte offen, daß er sich rasch in den Besitz des Vermögens seines geizigen Vetters habe setzen wellen, um seine Braut heimzuführen, die ohne Reichthum nicht zu erlangen gewesen sei. Sein Rechtsbeistand hatte ihm gerathen, die Gnade des Königs anzuflehen, da die Leidenschaft, die ihn zu der That verleitet, ein Milderungsgrund sei; Mölling aber hatte sich geweigert, indem er gesagt: da ich das Mädchen nicht besitzen kann, das ich liebe, denn es ist in der Zeit meines Prozesses die Gattin eines Andern geworden, so ist mir der Tod willkommen. Der junge Schwärmer bestieg mit einer Ruhe das Schaffot, die das allgemeine Interesse für ihn erweckte.“

Adolf gab erschüttert das Blatt zurück.

„Henriette hat Ihnen verziehen,“ sagte er zu dem Kommerzienrathe, „ich habe Ihnen nichts mehr zu verzeihen. Jener Verbrecher führte zufällig meinen vollständigen Namen und übte die Kunst, die ich übe – vielleicht war dies eine Fügung der Vorsehung.“

Er verließ das Landhaus und ging träumend und langsam nach Genf zurück. Es war Mitternacht, als er sein kleines Stübchen betrat.

Wir haben den Lesern zu erklären, wie Adolf von den Vorgängen in dem Landhause unterrichtet wurde. Melanie hatte, wie wir wissen, den Brief Henriette’s zur Besorgung übernommen. Dieser Brief fiel Mutter Collin, die das Zimmer ihrer Tochter durchsuchte, in die Hände. Da die Adresse deutsch geschrieben war, und die gute Alte nur französisch verstand, ging sie zu ihrem Miethsmanne und bat ihn, ihr die Worte zu übersetzen.

Man denke sich das Erstaunen des armen Adolf, als er den Namen F. Wilda von der Hand Henriette’s geschrieben erblickte.

Die bleiche Dame, die so viel Kummer zu leiden schien; das Trauerkleid, das Melanie für sie gestickt hatte; eine gewisse Hoffnung, die plötzlich in ihm aufstieg – Alles dies versetzte ihn in eine Aufregung, daß er, seiner selbst nicht mächtig, zum größten Schrecken der Alten den Brief erbrach, und folgende Zeilen las:           „Mein Vater!

„Sie haben mich verkauft, Sie haben mich unglücklich gemacht, und mit mir den armen Adolf, den braven jungen Mann, der in seiner Verzweiflung ein Verbrechen begangen hat, und auf dem Schaffotte gestorben ist. Er ist durch mich, durch Sie gestorben! Meine Ehe, die der Verstand geschlossen, war eine unglückliche; aber vielleicht würde ich sie dennoch ertragen haben, wenn die Nachricht von Adolf’s schrecklichem Tode mich der Verzweiflung nicht preisgegeben hätte. Das Leben ist mir eine Last, ich werfe sie ab und zerreiße das Band, das Sie um mich und den reichen Mann geschlungen. Gehen Sie sparsam mit beifolgender Summe um, denn sie ist die letzte, die Ihnen aus dem Heirathsgeschäfte wird. Während ich diese Zeilen schreibe, beginnt das Gift, das ich genommen, seine Zerstörung – nehmen Sie mit Gewißheit an, daß ich bei dem Manne meiner ersten Liebe bin, wenn der Brief in Ihre Hände gelangt. Leben Sie wohl, mein Vater, und beklagen Sie – Ihre

unglückliche Henriette.“

Adolf hatte den Brief auf den Tisch geworfen, die Wohnung verlassen und eine Stunde später das Landhaus betreten, in dem sich nun die Scenen ereignet, die wir bereits geschildert haben.

Die erschreckte Alte glaubte, ihr stiller Miethsmann sei plötzlich wahnsinnig geworden. Sie ging zu ihrem Manne und erzählte, was geschehen. Vater Collin schüttelte den Kopf, verbarg den Brief und sagte:

„Wir müssen warten!“

Gegen Abend kam Melanie nach Hause; sie war so erschöpft, daß sie Kopfschmerzen vorschützte, und zeitig zur Ruhe ging. Um Mitternacht hörten die beiden alten Leute auch den Musiker sein Zimmer betreten. Beruhigt legten sie sich schlafen. Am nächsten Morgen ließ Vater Collin den Musiker ersuchen, in sein Zimmer zu kommen. Adolf, der die Nacht wachend verbracht, erschien bleich und mit trüben Augen.

„Mein Herr,“ sagte der Blinde, „bekennen Sie offen, daß Sie meine Tochter nach Moskau entführen wollen!“

Der Geiger antwortete lächelnd:

„Wahrlich, nein, Herr Collin! Ich beabsichtige zwar, nach Moskau zu gehen, aber Melanie wird mich nicht begleiten.“

Nun erzählte er mit der größten Offenheit seine Lebensgeschichte.

„Um Sie zu beruhigen, habe ich Ihnen nichts, verschwiegen!“ schloß er. „Urtheilen Sie, ob ich je in der Verfassung gewesen bin, mich Ihrer Tochter zu nähern.“

„Warum aber erschrak Melanie, als sie hörte, daß Sie uns für immer verlassen wollten?“

„Darauf kann ich Dir Antwort geben!“ rief Mutter Collin, die eintretend diese Frage gehört hatte.

„Was ist Dir, Frau? Du bist aufgeregt, Du weinst –?“

„Die arme Melanie ist krank, sie hat mir Alles gestanden.“

„So erkläre Dich endlich!“ rief der ungeduldige Collin.

„Ach, das ist eine Unglücksgeschichte!“ schluchzte die Alte. „Unsere Tochter hat den Secretair des russischen Fürsten kennen

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