Seite:Die Gartenlaube (1856) 565.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

No. 42. 1856.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Die Rechte des Herzens.
(Fortsetzung)


IX.

Adolf war, ohne daß er es wußte, bei dem Landhause angekommen. Der Vollmond stand am klaren Himmel, und lichtete die Nacht zum Tage. Die Landschaft war still, kein Lufthauch bewegte die Bäume, kein Spaziergänger störte durch das Geräusch seiner Schritte die vollkommene Ruhe der reizenden Sommernacht. Der bleiche Musiker wollte die Gitterthür in dem Zaune öffnen – sie war verschlossen. Mechanisch sah er durch die Stäbe in den großen Garten: die Fläche des Weihers blitzte wie ein großer Stahlspiegel in dem Mondenlichte, und daneben erhoben sich die weißen Säulen des Pavillons. Durch eine Baumgruppe schimmerte Licht, es kam aus den Fenstern des Landhauses.

Die Ähnlichkeit der Dame mit den, Gegenstände seiner ersten und einzigen Liebe hatte in dem armen Adolf die Erinnerung an die treulose Henriette so lebhaft angefacht, daß die kaum verharrschte Wunde des Herzens von Neuem blutete. Die Ballnacht, in der er von der Geliebten den Schwur der Treue und als Unterpfand die rothe Rose empfangen hatte, stand deutlich vor seiner Seele. Er sah das schöne, blühende Mädchen, hörte die weiche, wohlklingende Stimme, und fühlte noch einmal den Schauer in seiner Brust, den die Versicherungen der Geliebten erregten.

Die zurückgesetzten, die unglücklich oder heimlich Liebenden allein kennen den Zauber, der in der Stimme des angebeteten Weibes liegt; er theilt sich der Seele mit, und verbleibt ihr für die Zeit des Lebens als eine süß schmerzliche Erinnerung. Adolf hatte diese Erinnerung in sich aufgenommen, für ihn besaß Henriette die schmelzende Stimme, deren Silberklang dem Ohre schmeichelt und das Herz durchdringt, bewegt und erschüttert, und es liebkosend zerbricht. Und dennoch hatte diese Stimme gelogen, hatte einen falschen Schwur ausgesprochen!

Männer, die so empfindsam sind, daß sie die erste Liebe zu einer treulosen Geliebten wie ein durch den Tod entrissenes Gut heilig halten, sind glücklicher Weise nur Ausnahmen; aber Adolf gehörte zu diesen Ausnahmen.

Die Glocke einer nicht fernen Dorfkirche schlug neun Uhr.

Adolf raffte sich empor, und ging an dem Zaune hin. Was wollte er denn von der bleichen, fremden Dame, die, wie Melanie erzählt, um ihr theuerstes Gut trauerte? Konnte er hoffen, in ihr einen Ersatz für Henrietten zu finden? Der arme Mann dachte, hoffte nichts; er wollte die lieben Züge bewundern, wie das theure Bild einer abgeschiedenen Person, und eine Stunde verträumen.

Der Spaziergänger kam bei dem Gitterthore an, das den Hof des Landhauses von der Allee trennte. Das schnell näher kommende Geräusch eines Wagens weckte ihn aus seinem Sinnen. Nach einigen Augenblicken hielt ein mit vier Postpferden bespannter Reisewagen vor dem Gitter. Ein Diener sprang von dem Bocke, und zog die Glocke. Der Wagen rasselte in den Hof, und das Gitterthor schloß sich wieder. Adolf lauschte durch die Stäbe. Da sah er, wie ein Mann in Reisekleidern ausstieg, eilig die Stufen des Perrons hinanlief, und in dem Landhause verschwand. Der Wagen wurde in eine Remise gebracht, der Postillon führte seine Pferde fort, und Alles war wieder still, wie zuvor.

Während Adolf langsam den Weg zur Stadt zurückgeht, folgen wir dem Reisenden in das Landhaus. Ein Diener leuchtet ihm die Treppe voran, und öffnet auf dem Corridor eine der Thüren. Der Reisende trat in ein erleuchtetes Vorzimmer, warf Hut und Oberrock ab, und trat mit allen Zeichen froher Hast in einen kleinen Saal. Das elegant und mit Luxus ausgestattete Gemach ward durch eine große Astrallampe hell beleuchtet. Auf einer Ottomane saß die bleiche Dame, die wir in dem Pavillon kennen gelernt haben. Die Blässe ihren Gesichts ward durch ein schwarzes Florkleid gehoben, das die schöne, etwas schmächtige Gestalt einschloß und ihre elegante Form genau abzeichnete.

Bei ihrem Erblicken blieb der Eintretende stehen. Die Dame erhob sich, um ihn zu begrüßen; aber auch sie blieb in der Mitte des Saales stehen, als sie die ernsten, vorwurfsvollen Mienen des Mannes sah.

„Henriette, Sie tragen Trauer! Ich habe nicht auf einen Empfang gerechnet, wie ihn der zurückkehrende Mann von der Gattin fordern kann, wohl aber auf eine Rücksicht für mich, in der Sie sich selbst ehren. Sie vergessen, daß Ihr Mann Rechte besitzt – –“

„Sie drohen mir schon wieder mit diesen Rechten, die ich zwar anerkenne, aber den meinigen unterordne!“

„Von welchen Rechten sprechen Sie, Madame?“

„Von den Rechten des Herzens!“ antwortete Henriette würdevoll.

Das volle Gesicht des Mannes verzog sich zu einem höhnenden Lächeln.

„Ich weiß es,“ fuhr die bleiche Dame bewegt fort, „Sie achten diese Rechte nicht, wie Sie auch mich sie zu verachten lehren wollten; leider bin ich gegen meinen Willen eine ungelehrige Schülerin gewesen. Ich bitte Sie, mir keine größere Last aufzuerlegen, als ich tragen kann.“


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 565. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_565.jpg&oldid=- (Version vom 12.5.2018)