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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Gegenliebe erwecken könne? War sie noch frei, und welchen Grund hatte der Kummer, der sich unverkennbar in ihrem ganzen Wesen aussprach? Adolf trug kein Verlangen, Gewißheit über diese Punkte zu erhalten; er wollte das verkörperte Ideal anbeten, das in ihm lebte, und während dieser heiligen Stunde um so lebhafter in der Erinnerung schwelgen, die mit seinem schwärmerischen Herzen verwachsen war. Auf einer seiner einsamen Streifereien durch die Wälder hatte er die Dame gesehen, die wunderbare Aehnlichkeit erkannt, und sich ihr unvermerkt genähert. Seit vier Wochen besuchte er jeden Morgen die Geißblattlaube, und nur mit wenigen Ausnahmen hatte er das Glück gehabt, sein Ideal jeden Morgen in dem Pavillon zu sehen.

Das Sinnen der Dame ward durch leise Schritte unterbrochen, die sich bei der Stille des Morgens auf den Stufen der Treppe vernehmen ließen. Als die Dame sich wandte, betrat ein junges Mädchen den Pavillon; es trug einen einfachen Strohhut, eine leichte, blaue Mantille, und unter dem Arme einen Karton.

„Ah, meine kleine Stickerin!“ sagte die Dame in gutem Französisch.

„Zu dienen, Madame!“ antwortete das junge Mädchen, indem es sich graziös verneigte. „Es ist mir möglich gewesen, Ihren geschätzten Auftrag bis heute auszuführen. Hier ist die Stickerei.“

Beide traten zu dem Tisch und öffneten den Karton.

Adolf war erstarrt, wie Loth’s Salzsäule. Er hörte zum ersten Male die Stimme seines Ideals, aber die wenigen Worte, die sie gesprochen, hatten genügt, um ihn eine Aehnlichkeit mit der weichen, einschmeichelnden Stimme Henriette’s, die noch immer vor seinen Ohren klang, erkennen zu lassen. Vielleicht trug seine aufgeregte Phantasie die Schuld daran, aber die Täuschung wäre vollkommen gewesen, wenn er deutsche Worte gehört hätte. Dem ersten Erstaunen gesellte sich ein zweites bei: er hatte Melanie, die Tochter Vater Collin’s erkannt. Mit angehaltenem Athem fuhr er fort zu lauschen.

„Bewunderungswürdig!“ rief entzückt die bleiche Dame. „Das ist ein Meisterstück von Kunst, Geschmack und Geduld! Die Blumen scheinen nicht gestickt, sie scheinen lebendig zu sein! Man hat mir nicht zu viel von Ihrer Kunstfertigkeit gerühmt.“

„Sie sind sehr gütig, Madame!“ antwortete die beschämte Melanie. „Ich bin glücklich, wenn es mir gelungen ist, Ihren Beifall zu erwerben.“

„Henriette! Melanie!“ flüsterte Adolf vor sich hin.

„Und nun geben Sie mir Ihre Rechnung, mein liebes Kind.“

Melanie überreichte, sich verneigend, ein Papier. Die Dame las es.

„Fünfundsechzig Francs?“ rief sie erstaunt.

„Verzeihung, Madame!“ stammelte Melanie bestürzt. Die Auslagen – eine vierzehntägige Arbeit –!“

„Nein, nein, mein liebes Kind; ich finde, daß nicht einmal die Arbeit, geschweige denn die Kunst bezahlt ist. Sie erhalten hundert Francs, und nun sprechen wir kein Wort mehr über diesen Punkt!“ fügte die Dame in einem fast befehlenden Tone hinzu.

Melanie war vor freudigem Erstaunen keines Wortes mächtig; sie ergriff die weiße Hand der Dame, die sich so gütig zeigte, und drückte einen Kuß darauf.

Die Dame begann zu frühstücken, nachdem sie die Stickerin eingeladen, ein wenig zu ruhen. Gleich darauf erschien die Magd wieder, und überreichte ihrer Herrin einen Brief, den diese sofort erbrach und las.

„Mein Gott!“ flüsterte sie bestürzt. Dann las sie die wenigen Zeilen noch einmal, und verbarg das Papier mit zitternder Hand in der Tasche ihres Mantels. Adolf bemerkte, wie sie mit dem weißen Taschentuche die feucht gewordenen Augen trocknete.

„Folgen Sie mir in das Landhaus!“ sagte sie dann zu Melanie. „Ich hätte mich gern noch einige Zeit mit Ihnen unterhalten; leider ist es mir nicht vergönnt.“

Die Frauen verschwanden aus dem Pavillon. Noch eine Viertelstunde blieb Adolf sinnend in der Laube zurück, dann verließ er auf umbüschten Wegen den Garten, schlug einen Waldpfad ein, und kam gegen Mittag in seiner Wohnung an. Melanie öffnete ihm die Thür. Er grüßte artig das junge Mädchen, und betrat sein Zimmer. Gleich darauf hörte man die klagenden Phantasien des Virtuosen; sie waren der Ausdruck seines zerrissenen Gemüths.




VIII.


Drei Tage hatte Adolf erfolglos seine Spaziergänge fortgesetzt; stundenlang war er in der Geißblattlaube gewesen – er hatte sein Ideal nicht wieder gesehen. Noch drei Tage lagen zwischen heute und dem Termine, den ihm der Fürst zur Abgabe einer bestimmten Erklärung gesetzt. Der arme Adolf befand sich in einer peinlichen Lage: sein kleines Vermögen war aufgezehrt, sein Ideal war verschwunden, wahrscheinlich in Folge des Briefes, der ihr einen so großen Schrecken bereitet, und nun mußte er sich zu einer raschen Entscheidung entschließen, wenn ihm die Gelegenheit, sein Glück zu gründen, nicht entgehen sollte. Die Aussicht, in seiner Kunst mit Erfolg thätig zu sein, stachelte den Ehrgeiz des Virtuosen, der zwar geschlummert hatte, aber nicht völlig erstickt gewesen war. An wen sollte er sich wenden, um Aufschluß über die Dame zu erhalten? Eine Annäherung in dem Landhause war unmöglich, ihm blieb nichts, als sich an Melanie zu wenden, die ohne Zweifel wenigstens den Namen der bleichen Dame kannte. Wie aber sollte er das junge Mädchen ausforschen, ohne seine wahre Absicht zu verrathen? Wie sollte er die Vermuthung beschönigen, daß gerade Melanie ihm Auskunft geben könne? Der Tag verfloß, und immer noch hatte er kein Mittel gefunden, seinen Zweck, wie er es wünschte, zu erreichen.

Gegen Abend kam ihm der Zufall zu Hülfe. Als er die Wohnung verließ, .um einen Spaziergang zu machen, trat ihm schüchtern ein Knabe auf der Treppe entgegen.

„Lieber Herr,“ sagte der neun oder zehn Jahre alte Knabe, „Sie wohnen wohl bei Herrn Collin?“

„Ja. Und warum?“

„Ich habe einen dringenden Brief an Demoiselle Melanie Collin abzugeben.“

„Von wem?“

„Meine Mutter gab ihn mir, und sagte - -“

Der Knabe stockte.

„Daß Herr und Madame Collin nichts davon erfahren sollten?“ fragte Adolf.

„Ja!“ flüsterte lächelnd der kleine Bote.

„Gib mir den Brief; ich werde ihn besorgen, ohne daß Jemand etwas davon bemerkt.“

„Sogleich?“

„In diesem Augenblicke.“

Der Knabe übergab den Brief, und verschwand in der Biegung der schmalen Treppe. Adolf betrachtete die Adresse: die feste Hand eines Mannes hatte sie in schönen Zügen geschrieben.

Schmerzlich lächelnd dachte der junge Mann:

„Es gab eine Zeit, in der ich ähnliche Briefe schrieb! Kommen diese Zeilen von einem Verehrer, so wünsche ich ihm, daß er glücklicher sein möge, als ich gewesen bin!“

Mit Hülfe seines Schlüssels öffnete er die Thür wieder, und trat auf den Vorsaal zurück, erfreut, einen Grund gefunden zu haben, sich dem jungen Mädchen heimlich zu nähern. Indem er an der Thür des Wohnzimmers vorüberging, hörte er, daß Mutter Collin ihrem blinden Manne mit lauter Stimme vorlas. Das war wiederum ein glücklicher Zufall, denn er hatte nun von dieser Seite her keine Ueberraschung zu fürchten. Behutsam schlich er zu Melanie’s Thür, und klopfte leise an. Eine weiche Stimme forderte zum Eintreten auf. Im nächsten Augenblicke stand der Musiker vor Melanie, die sich überrascht, fast erschreckt, erhob, und eine saubere Stickerei mit zitternder Hand bei Seite legte. Sie wohnte mit dem stillen Miethsmann zwei Jahre unter einem Dache, ohne mehr als einen flüchtigen Gruß von ihm gehört zu haben – was konnte ihn heute antreiben, ihr Zimmer still und geheimnißvoll zu betreten? Das liebliche Mädchen bot in der grenzenlosen Verwirrung einen reizenden Anblick. Indem sie durch eine Verneigung grüßte, hielt sie sich mit der kleinen Hand an der Lehne des Arbeitsstuhles.

„Mademoiselle, man hat mir einen Brief für Sie übergeben,“ begann Adolf.

„Für mich?“ stammelte sie. Und die Purpurröthe ihrer Wangen verwandelte sich in dunkele Glut.

„Ich übergebe ihn, wie man mir aufgetragen: unter vier Augen!“

Sie nahm den Brief mit zitternder Hand, und verbarg ihn in einem Kasten ihres kleinen Arbeitstisches.

„Ich danke Ihnen, Herr Mölling!“ flüsterte sie dann.

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