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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Die Mutter schloß die zitternde Tochter in ihre Arme, küßte zärtlich die Stirn derselben, und flüsterte:

„Melanie, Du birgst ein Geheimniß vor uns, das Dir Kummer macht. Hast Du denn kein Vertrauen mehr zu Deinen alten Eltern? Theile Dich uns mit, und sei überzeugt, daß wir Alles aufbieten werden, um Dir die Ruhe wiederzugeben!“

„Meine Tochter,“ begann der Blinde mit vor Aufregung zitternder Stimme, „jetzt höre auch mich an. Wir haben seit einiger Zeit mit Bedauern die Veränderung bemerkt, die mit Dir vorgegangen ist. Du weißt, daß ich Dich zärtlich liebe, und daß ich nur Dein Glück wollen kann: darum antworte offenherzig auf meine Fragen.“

„Was wollen Sie wissen?“ flüsterte Melanie, die sich wieder erholt zu haben schien.

„Macht Dir die Abreise des deutschen Musikers Kummer?“

„Nein, nein, Vater, sie ist mir gleichgültig!“ rief die Tochter, indem sie sich an die Brust des Vaters warf.

„Aber Du weinst doch, befindest Dich in außerordentlicher Aufregung?“ fragte die Mutter.

„Du willst uns wegen Deiner Trennung nicht besorgt machen!“ rief der blinde Vater. „Wenn das ist, so sprich es nur aus, wir fordern kein Opfer von Dir, das Du nicht bringen kannst.“

Melanie erhob ihren Kopf, und sagte mit fester Stimme: „Glauben Sie mir denn nicht, Vater? Ich wünsche Herrn Mölling alles Glück der Welt; aber ich denke nicht daran, ihn zu begleiten – er ist mir völlig gleichgültig.“

Dann küßte sie den Vater und die Mutter, und verließ rasch das Zimmer.

Vater Collin sank sinnend in seinen Lehnstuhl. Mutter Collin schüttelte den Kopf und murmelte:

„Das arme Kind! Sie mag sagen, was sie will – ich bleibe dabei, sie hat den bleichen Musiker gern. Sie weiß, daß sie unsere einzige Stütze ist, und darum bekämpft sie das Gefühl in ihrer Brust.“

„Mutter,“ rief der Blinde nach einer Pause, „Mölling muß doch ein braver Mann sein, der es ehrlich mit unserer Tochter meint, da er ein so glänzendes Anerbieten abschlägt. Trotzdem aber bleibt es eine traurige Geschichte.“

Die beiden alten Leute erschöpften sich in Vermuthungen; aber alle widerstritten der Versicherung Melanie’s: er ist mir völlig gleichgültig. Sie blieben bei der Ansicht, daß die erste Liebe sich der Herzen der jungen Leute bemächtigt habe.

„Hätte der Mensch nie unsere Wohnung betreten!“ murmelte Collin vor sich hin. „Dies fehlte auch noch, um meine Sorgenlast vollständig zu machen.“

„Ich will mein Kind trösten,“ dachte Mutter Collin, die es bereute, das Mittel der Unwahrheit angewendet zu haben. „Mag er ihr nun gleichgültig sein oder nicht, sie soll die Wahrheit wissen.“

Sie schlich in das Arbeitsstübchen ihrer Tochter. Die Abenddämmerung erfüllte bereits den kleinen freundlichen Raum. Melanie saß nachdenkend am Fenster, durch das die kühle Abendluft einzog. Als sie die alte Mutter eintreten hörte, sah sie mit thränenschweren Augen empor.

„Kind,“ flüsterte die Alte, „wir haben Dir die Unwahrheit gesagt, um Dich zum Geständnisse Deines Kummers zu bewegen – und Du hast Kummer, das läßt sich nicht hinwegleugnen. So vernimm denn: Herr Adolf hat es dem Fürsten nicht nur rund abgeschlagen, ihm nach Moskau zu folgen, er denkt auch nicht daran, seine Wohnung aufzugeben.“

Melanie reichte schmerzlich bewegt der Mutter die Hand.

„Liebe Mutter,“ sagte sie lächelnd, „machen Sie sich deshalb keine Sorgen; der Entschluß unseres Miethsmanns übt auf mich keine Wirkung aus.“

„Aber warum weinst Du denn, sonderbares Mädchen?“

„Lassen Sie mir mein kleines Geheimniß, Mütterchen!“ bat sie mit einschmeichelnder Stimme.

„Nun gut; aber verlaß Dich darauf, der Fürst wird in acht Tagen ohne ihn abreisen, ich weiß es ganz genau.“

Melanie fuhr erschreckt zusammen.

„Sie wissen es genau?“ fragte sie, gewaltsam nach Fassung ringend. „Wer sagte es Ihnen?“

„Der Fürst war diesen Mittag bei dem Musiker; er selbst hat es ihm gesagt. Ich war auf dem Vorsaale beschäftigt, und hörte das ganze Gespräch.“

Wäre es nicht so finster gewesen, so hätte die Mutter sehen können, wie Melanie erbleichte, die sich abwandte und das Fenster schloß. Die Mutter ging in die Küche, um das Abendessen zu bereiten. Als eine halbe Stunde später die kleine Familie am Tische saß, erschien Melanie ruhig und gefaßt. Die peinliche Stimmung, die sich aller Personen nach den Vorgängen des Tages bemächtigt, ward durch das Spiel des stillen Miethsmannes noch erhöht, der heute seinem schönen Instrumente die wehmüthigsten Melodien entlockte.



VII.


Schon früh am nächsten Morgen sehen wir Adolf Mölling an dem Ufer des Sees, der dicht an der Stadt beginnt. Hastig geht er durch die duftende Allee der großen Lindenbäume, ohne dem prachtvollen Schauspiele des Sonnenaufgangs einen Blick zuzuwenden. Nach einer Stunde hat er ein kleines Wäldchen erreicht; er geht an dem Saume desselben hin, bis er zu einem einfachen Landhause kommt, dessen weiße Mauer lieblich durch ein Akaziengebüsch schimmert. Hinter dem Hause breitet sich ein großer Obstgarten aus. Adolf öffnet eine kleine Thür in der hohen Lindenhecke, und tritt mit einer Sicherheit in den Garten, die vermuthen läßt, daß er hier bekannt ist. Auf einem zwischen Zwergobstbäumen hinführenden Wege erreicht er bald einen kleinen Pavillon, der an einem mit hohen Schilfe umkränzten Weiher liegt. Zehn Schritte von dem Pavillon befindet sich eine kleine Geißblattlaube. Adolf betritt sie, läßt sich auf einer Bank nieder, holt ein Buch aus der Tasche, und beginnt zu lesen.

Einer jener schönen Tage war angebrochen, wie man sie nur an den Ufern des Genfer Sees erlebt. Alles war still wie in einer Kirche; das Gehölz wehrte dem frischen Morgenwinde, der über den See kam, es bewegte sich kein Blatt.

Das Buch schien die Aufmerksamkeit des Lesers nicht zu fesseln, oft sah er darüber hinweg nach dem Pavillon, der, weil er erhöht lag und offen war, sich völlig überblicken ließ. Wohl eine Viertelstunde mochte Adolf mit getheilter Aufmerksamkeit gelesen haben, als eine Magd den Pavillon betrat, den Tisch deckte und die Chocolate darauf niedersetzte. Kaum hatte sich die Magd entfernt, als eine Dame erschien. Trotzdem Adolf sie erwartet zu haben schien, zuckte er heftig zusammen; das Buch entsank seiner Hand.

Die Dame trat auf den kleinen Balkon, lehnte sich auf das Geländer, und sah sinnend auf die spiegelglatte Fläche des Weihers hinab. Sie hatte eine Stellung gewählt, die dem bangen Lauscher erlaubte, ihr Gesicht zu sehen. Die sinnende Dame war von schlanker Gestalt; sie trug einen seinen weißen Batistmantel, der sie völlig einhüllte. Den großen italienischen Strohhut mit blauem Bande hatte sie beim Eintreten auf den Tisch gelegt; ihr volles schwarzes Haar, das sich über der Stirn einfach scheitelte, fiel in zwei schweren langen Flechten über den Rücken herab. Das ovale Gesicht war trotz der Blässe, die durch das schwarze Haar und den weißen Mantel noch gehoben ward, wunderbar schön. Die großen blauen Augen mit den langen Wimpern und die regelmäßigen Züge drückten eine tiefe Melancholie, einen nagenden Seelenschmerz aus. Sollte vielleicht diese verwandte Gemüthsstimmung unsern bleichen Virtuosen so anziehen, daß er die schöne Frau mit einem Erstaunen, das man Begeisterung nennen möchte, betrachtete? War es überhaupt die ergreifende Poesie, die für den gefühlvollen Mann in der Erscheinung einer leidenden Frau liegt? Allerdings fand sich Adolf dadurch angezogen, aber mehr noch durch die wunderbare Ähnlichkeit, die diese Frau mit der treulosen Henriette hatte, mit dem Gegenstande der ersten Liebe des armen Geigers. Und wahrlich, man hätte sie dafür halten können, wenn ihr Gesicht blühender, ihre Formen üppiger und ihr Wesen lebhafter gewesen wären.

Adolf konnte seine Henriette nicht vergessen, und hier fand er ihr vollkommenes Ebenbild. In seiner Schwärmerei wollte er dem verwundeten Herzen dadurch einen lindernden Balsam verschaffen, daß er sich jetzt einer rein geistigen, bewundernden Liebe hingab. Und wahrlich, seine Phantasie war stark genug, um in der Frau mehr als die Frau zu erblicken, um glücklicher in dieser Bewunderung zu sein, als in dem wirklichen Besitze der feurigsten Liebe.

Aber wer war denn diese Frau? Durfte der Bewunderer hoffen, daß er sich ihr nähern, daß er ihre Aufmerksamkeit und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 550. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_550.jpg&oldid=- (Version vom 5.3.2017)