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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

auf der ersten Stufe der Treppe, stand ein Bediente in glänzender Livree.

„Madame, wohnt hier der Musiker Adolf Mölling?“ fragte der Fremde in einem Dialekte, der den Ausländer verrieth.

„Ja, mein Herr!“

„Kann ich ihn sprechen?“

„Er befindet sich in seinem Zimmer.“

Der Fremde trat ein, nachdem er seinem Diener durch ein Zeichen angedeutet, daß er draußen warten möge. Mutter Collin öffnete die Thür des kleinen Zimmers, das ihr Miethsmann bewohnte.

„Herr Mölling,“ flüsterte sie, „ein vornehmer Herr wünscht Sie zu sprechen.“

Adolf war angekleidet, er wollte ausgehen. Ueberrascht empfing er den Fremden, der sich bücken mußte, um nicht mit dem Kopfe an die niedere Decke zu stoßen. Als die Thür geschlossen war, befand sich Mutter Collin allein auf dem Vorsaale. Die Neugierde, die allen Frauen eigen ist, erwachte in ihr. Die gute Alte hielt es für keine Sünde, ein wenig zu horchen, sie glaubte selbst ein Recht dazu zu haben, seit sie wußte, daß die arme Melanie in den Musiker verliebt war. Die Wände waren so dünn, daß sie ohne große Mühe jedes Wort des folgenden Gesprächs verstehen konnte.

„Ah, Sie sind Herr Mölling!“ sagte die volltönende Stimme des Fremden.

„Kennen Sie mich?“ fragte Adolf bescheiden.

„Ich kenne und bewundere Sie, mein junger Freund!“

„Aber, mein Herr –!“

„Sie haben gestern Abend in dem Concerte, das die armen Italiener gaben, vortrefflich gespielt. Ich komme, um Ihnen meine Bewunderung auszudrücken, und einen Antrag zu machen. Wie armselig wohnt ein Künstler, den ich zu den besten zähle, die ich kenne. Man sollte es kaum für möglich halten! Wollen oder können Sie aus Ihrem herrlichen Talente keinen Vortheil ziehen?“

„Mein Herr, wer gibt mir die Ehre seines Besuches?“ fragte Adolf in sichtlicher Bewegung.

„Ich bin der russische Fürst W…“ (er nannte seinen Namen.)

Adolf verbeugte sich.

„Die Musik ist diejenige Kunst, die ich am meisten liebe und achte,“ fuhr der Fürst fort. „Deshalb halte ich mir in meinem Vaterlande eine kleine, aber tüchtige Kapelle. Mir fehlt ein Virtuos, wie Sie sind. Ich biete Ihnen einen jährlichen Gehalt von tausend Silberrubeln – haben Sie Lust, mir nach Moskau zu folgen?“

Mutter Collin schlug die Hände über dem Kopfe zusammen.

„Tausend Silberrudel für das Jahr!“ flüsterte sie. „Mit einer solchen Summe könnte meine Melanie, die an Sparsamkeit gewöhnt ist, schon haushalten.“

Gespannt wartete sie aus die Antwort des Musikers. Nach einer kurzen Pause fuhr der Fürst fort:

„Und damit Ihre Zukunft gesichert, ist, werde ich einen Kontrakt auf zehn Jahre mit Ihnen abschließen. Nach dieser Zeit zahle ich oder mein Erbe Ihnen die Hälfte des Gehaltes als Pension.“

Melanie’s Mutter zitterte vor Aufregung an: ganzen Körper; sie zweifelte keinen Augenblick daran, daß Adolf vor freudiger Bestürzung nicht zu Worte kommen konnte, und daß er den Kontrakt begierig annehmen würde.

„Sie sind bewegt,“ hörte sie den Fürsten sagen. „Die plötzliche Umgestaltung Ihrer beschränkten Lage mag Ihnen vielleicht wunderbar erscheinen – aber zweifeln Sie nicht daran, es steht bei Ihnen, sich eine glückliche Zukunft zu schaffen. Uebrigens gebe ich Ihnen acht Tage Zeit zu überlegen – ich wohne im Hotel Belle vue, besuchen Sie mich, sobald Sie einen Entschluß gefaßt haben.“

„Gnädiger Herr,“ sagte Adolf mit fester Stimme, „ich werde die Ehre haben, Ihnen sogleich meinen Entschluß mitzutheilen.“

„Das ist gescheidt!“ dachte Mutter Collin. „Wenn man das Glück beim Zipfel hat, muß man es nicht aus der Hand lassen.“

„Ihr Antrag, gnädiger Herr, ist für mich so ehrenvoll, daß ich vergebens nach Worten suche, um Ihnen meinen Dank auszudrücken. Trotzdem aber ist es mir unmöglich, Ihnen zu folgen.“

„Wie?“ fragte der Fürst.

Mutter Collin glaubte ihren Ohren nicht trauen zu dürfen.

„Ich kann Genf nicht verlassen,“ fügte Adolf hinzu.

„Ich errathe,“ rief lächelnd der Fürst: „vielleicht fesseln Sie süße Bande!“

„Gewiß, gewiß!“ flüsterte die Lauscherin. „Er liebt Melanie, und das Mädchen liebt ihn wieder.“

„Wenn das ist,“ fuhr der Fürst fort, „so können wir uns arrangiren. Der Kapellmeister des Fürsten W… wird ohne Zweifel Gehör finden, wo er anklopft. Die Kosten der Reise und der Einrichtung in Ihrer neuen Heimath trage ich. Noch einmal: es wird mir Freude machen, wenn ich einen so tüchtigen Künstler, wie Sie sind, besitzen und glücklich machen kann. Ueberlegen Sie reiflich und theilen Sie mir binnen acht Tagen Ihren Entschluß mit.“

Der Fürst trat aus dem Zimmer, ging an der erstarrten Lauscherin vorüber, und verließ die Dachwohnung. Als Mutter Collin aus dem Fenster in die Straße hinabsah, fuhr eine glänzende Equipage davon. Der Diener, der auf der Treppe gestanden hatte, saß bei dem Kutscher auf dem Bocke.

„Er will Melanie’s wegen Genf nicht verlassen!“ flüsterte die Alte. „Seine Liebe muß wahrlich groß sein. So weit sind die beiden Verliebten also schon gekommen. Und ich habe es erst seit einigen Tagen bemerkt! Großer Gott, wo habe ich denn meine Augen gehabt? Das ist eine ernste Geschichte: nimmt Herr Adolf den Posten an, so kann er Melanie heirathen, aber wir müssen uns von ihr trennen, müssen sie nach dem fernen Moskau ziehen lassen, und es fragt sich, ob wir sie je wiedersehen; lehnt er den Antrag ab, so bleibt er zwar in Genf – aber an eine Heirath ist nicht zu denken, denn wir sind arm, und er ist arm, wie wir. Ich bin doch neugierig, was mein Alter dazu sagt.“

Kaum war die gute Frau mit den Betrachtungen zu Ende, als Adolf aus seinem Zimmer trat; er grüßte höflich, indem er vorüberging, und verließ die Wohnung.

„Er sieht sehr bleich aus,“ dachte Mutter Collin; „aber er ist doch ein schöner Mann. Ich wollte, der Fürst hätte seine Residenz in Genf!“

Zehn Minuten später wußte Vater Collin, was vorgegangen war; er schüttelte den Kopf und murmelte:

„Der deutsche Musiker ist kein Mann für meine Tochter“



VI.


Denselben Abend hatte Melanie ein scharfes Examen zu bestehen. Vater Collin, der den ganzen Nachmittag sehr unruhig gewesen war, wollte Gewißheit haben, um seine Vorkehrungen treffen zu können. Der Gedanke, das Glück seiner Tochter mit einer vielleicht ewigen Trennung erkaufen zu müssen, lag mit Centnerlast auf seiner Seele. Adolf Mölling war zwar schon länger als ein Jahr sein Miethsmann, und hatte stets pünktlich die Monatsrechnungen bezahlt; aber der halbblinde Mann, der sich gern unterhielt, hatte ihn noch nicht kennen gelernt, ein flüchtiger Gruß und das Geigenspiel war Alles, was er von ihm gehört hatte. Adolf war ihm ein völlig unbekannter Mann, und wenn Vater Collin ihn für einen Sonderling oder Melancholiker hielt, der für seine lebensfrohe Tochter nicht paßte, so hatte er allerdings Grund genug dazu. In der Meinung, daß seine Frau sich täuschte, nahm er sich vor, sorgfältig zu sondiren, ehe er den väterlichen Machtspruch that.

„Frau,“ sagte er, „wenn ich mit Melanie spreche, wirst Du sie beobachten, nichts weiter, als beobachten – hörst Du? Später theilst Du mir mit, was Du gesehen hast. Also merke Dir: Du siehst für mich, und ich spreche für Dich. Jetzt gib mir meine Brille, und dann suche Melanie unter irgend einem Vorwande zu veranlassen, daß sie in diesem Zimmer bleibe. Aber ich wiederhole Dir: schweige so lange, bis ich Dir die Erlaubniß zu sprechen gebe.“


(Fortsetzung folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 536. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_536.jpg&oldid=- (Version vom 5.3.2017)