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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

„Ich ahnete diese Kassenvisitation! Mein Mann ist nicht hier; er hatte einen reitenden Boten erhalten und fuhr eilig zur Stadt, nur von wichtigen Geschäften sprechend, die ihn riefen; anscheinend gleichgültig, aber jetzt erst sehe ich die Unruhe, die er zu verbergen suchte.“

„Hat er Ihnen gar nichts anvertraut?“

„Nichts! Er that es nie. Glauben Sie an Defecte in der Kasse?“

„Ich fürchte sie. Wie steht es mit Ihrer Erbschaft? Wenn erwarten Sie den Eingang derselben?“

„Schon gestern; heute oder morgen müssen die Gelder bestimmt eintreffen.“

„Morgen wäre es zu spät. Sind Sie nicht im Besitze anderer Geldsummen?“

Sie erröthete.

„Ich habe weiter nichts, als das Wirthschaftsgeld, und dies ist beinahe verausgabt; ich habe davon für die Weihnachtsfreude der Kinder angeschafft.“

„Bis wann kann Ihr Mann aus der Stadt zurück sein ?“

„Er fuhr um ein Uhr fort, und jetzt haben wir halb sechs; wenn seine Geschäfte ihn nicht so lange aufhalten, so kann er um sieben Uhr zurück sein, also in anderthalb Stunden.“

Ich sann über ein Mittel nach, Aufenthalt zu gewinnen; denn es kam Alles darauf an.

„Lassen Sie die Herren hierher zu einer Tasse Thee bitten.“

Sie eilte zu der Klingel.

„Die Herren sind der Regierungspräsident, der Kassenrath und der Doktor Feder.“

„Der?“

Sie zog, wie mit Abscheu, die Hand von der Klingel zurück.

„Wir gewinnen Aufenthalt,“ sagte ich.

Die Arme zog an der Klingel, als wenn diese ihr Rettungsanker wäre, und als der Bediente erschien, trug sie ihm die Einladung der Herren auf.

Die Glocke hatte aber gleichzeitig noch etwas Anderes in das Zimmer gerufen.

Durch eine Seitenthür stürzten drei Kinder mit fröhlichen, lachenden Augen herein. Das Christkindchen, das Christkindchen! riefen sie; aber enttäuscht, still und verlegen blieben sie an der Thüre stehen.

Ich sah mich jetzt erst näher in dem Zimmer um. Die Mutter war mit dem Aufputzen des Weihnachtsbaumes für die Kinder beschäftigt gewesen, als ich eintrat. Der frische Tannenbaum stand schon in der Mitte der Stube und war mit Schmelzketten, seidenen Bändern, silbernen Aepfeln und goldenen Nüssen behangen. So weit war die Mutter mit ihrer Vorbereitung gekommen, während schon die fremden Leute in ihrem Hause waren, und sie schon ahnete, was deren plötzliches Erscheinen bringen werde.

Wie mochte das Mutterherz gebangt und gezagt, wie mochten die Hände gezittert haben, als sie den Baum schmückte. Die blühenden, fröhlichen Kindesgesichter hatten gewiß noch nicht vor ihrem feuchten Auge gestanden. Die Geschenke für die Kinder standen und lagen noch ungeordnet auf den Stühlen umher, und wenn auch sie geordnet waren, sollten die Kleinen hereinkommen. Der Ton der Glocke sollte sie rufen; er hatte sie zu früh gerufen; verlegen standen sie nun vor dem Baume, in dessen Zweigen die Lichter noch nicht brannten, und vor dem bekümmerten, ängstlichen Gesichte der Mutter. Das war keine Weihnachtsfreude.

Aber herrliche Kinder waren es. Marie Gamkow hatte Recht gehabt. Zwei Knaben von ungefähr acht und drei, und ein Mädchen von sechs Jahren; Alle gesund, frisch und blühend.

„Es ist noch zu früh, Kinder,“ sagte die Mutter.

„Ja, ja,“ bemerkte verständig der ältere Knabe, „es ist ja auch noch nicht sechs Uhr, und der Vater ist noch nicht zurück.“

Klug setzte das Mädchen hinzu: „Und vor sechs Uhr hat das Christkindchen auch keine Zeit.“

Der Bediente kehrte zurück.

„Die Herren ließen danken, sie seien beschäftigt.“

Die Frau vom Hause wies ihn an, den Herren den Thee in das Zimmer zu bringen, in dem sie sich befanden. Sie entfernte sich mit ihm, um draußen etwas zu besorgen. Die Kinder ließ sie bei mir.

„Erzählt dem Onkel; er ist ein Freund Eurer Mutter.“

Das Mädchen kam sogleich zutraulich zu mir.

„Wir schenken den Eltern auch etwas zu Weihnachten,“ sagte sie geheimnißvoll.

„Therese, Du sollst nicht plaudern,“ drohete keck der Knabe von drei Jahren.

„Mir könnt Ihr es schon sagen, Kinderchen, ich verrathe nichts. Was schenkt Ihr denn den Eltern? Zuerst Du, kleine Therese?“

„Ich habe ein Gedicht auswendig gelernt.“

„Und Du, mein kleiner Bursch? Wie heißt Du?“

„Gustav heißt er,“ rief das Mädchen; „er kann nicht lernen, er ist noch zu klein.“

„Aber,“ fiel trotzig der Kleine ein, „ich bringe das Versprechen, daß ich artig nun sein und Dich nicht mehr schlagen will. Das ist mein Geschenk. Die Mutter sagt, es sei ihr das Liebste.“

Ich wollte mich an den ältern Knaben wenden; das Geschwätz mit den Kindern sollte die große Unruhe zerstreuen, die mich immer mehr und mehr ergriff; aber da kehrte Frau von Grauburg heftig zitternd zurück.

„Man hat einen Schlosser kommen lassen,“ sagte sie; „er ist so eben eingetroffen.“

Sie war so erschöpft, daß sie sich nicht mehr halten konnte und auf das Sopha setzen mußte; eine furchtbare Blässe bedeckte ihr Gesicht; die Kinder flogen erschrocken zu ihr.

„Was fehlt Dir, Mutter? Bist Du krank? Du zitterst.“

Sie nahm alle ihre Kraft zusammen. „Es ist nichts,“ sagte sie; „es war kalt draußen; kehrt jetzt in Eure Stube zurück, denn um sechs kommt das Christkindchen, und das bescheert nur, wenn die Kinder nicht dabei sind.“

Die Thür des Zimmers öffnete sich, und der Bediente trat mit einem der beiden Executoren ein.

„Der Herr Präsident lassen den Herrn Rath bitten; das Geschäft soll sofort beginnen.“

„Ich komme.“

Der Bediente und Executor entfernten sich wieder.

„Es ist zu spät,“ jammerte die unglückliche Frau. „Er ist so leichtsinnig, und hat gewiß Defecte. Die Gesetze sind streng, ich kenne sie. Es ist vorbei, vorbei in dem letzten Momente! Ich hatte so viel, so lange Jahre gelitten, heute sollte das Ende der Leiden und der Angst kommen. Ich hatte mich so gefreut, denn heute sollte die Erbschaft eintreffen; sie sollte ein Weihnachtsgeschenk für ihn, für uns Alle sein; sie sollte allen unsern Sorgen ein Ende machen. O, noch eine, eine Stunde! Zu spät! Es ist vorbei!“

Der Dienst rief mich, der unerbittliche Dienst.

„Vertrauen Sie auf Gott, Therese!“

Ich mußte fort. Sie lag einer Ohnmacht nahe im Sopha. Die Kinder standen mit ihren bleichen Gesichtern um sie, die vor wenigen Augenblicken noch so fröhlichen, lachenden Gestalten. Hinter ihnen stand der Weihnachtsbaum mit den glitzernden Schmelzketten, den flatternden Seidenbändern, den blanken Aepfeln, den goldenen Nüssen und den bunten Wachskerzen; aber die bunten Kerzen brannten noch nicht; die Zweige des Baumes hingen finster und traurig herab. Es war Alles in Traum und Finsterniß. So mußte ich die Arme verlassen; das Herz wollte mir brechen. Ich blickte unmittelbar darauf in das höhnisch grinsende Gesicht des Doktor Feder.

Man war während meiner Abwesenheit nicht unthätig gewesen. Nicht nur ein Schlosser mit seinem Handwerkszeuge, auch der Rendant und der Controleur der Kasse waren durch die Executoren herbeigerufen. Man begab sich in das Kassenzimmer; der Doktor Feder mußte zurückbleiben, aber sein höhnischer Blick begleitete uns. Das Zimmer lag neben der Arbeitsstube des Herrn von Grauburg; es war verschlossen, und auf Befehl des Präsidenten sprengte der Schlosser das Schloß. Wir traten in das Zimmer.

„Zeigen Sie die Kasse,“ befahl der Präsident dem Rendanten.

Der Beamte führte uns nach dem Ende des Zimmers. In einer starken, vorgebauten Mauer befand sich eine eiserne Thür.

„Hier,“ sagte der Beamte.

„Die Schlüssel?“

„Der Domainendirektor führt sie allein.“

„Sie sind nicht hier?“

„Der Herr Domainendirektor trägt sie stets bei sich.“

„Schlosser, sprengen Sie die Thür.“

Der Schlosser sprengte die Thür. Es dauerte eine ziemliche Weile. Die Minuten verflossen mir wie Sekunden.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 520. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_520.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)