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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Nicht weit von der Tells-Platte sieht man an beiden Ufern die einander genau entsprechenden Aufrichtungen, Stauchungen, Windungen und Verwerfungen der übereinander liegenden Schichten der Kreide- und älteren Tertiärformation. Das ist ein geologischer Hörsaal! Da predigt sich in stummer, aber gewaltig eindringlicher Zeichenschrift die Geschichtsperiode jener Zeit, wo es hier bunt herging. Niemand außer mir achtete auf diese Erscheinung, obgleich das Verdeck von Reisenden wimmelte und obgleich die himmelhohen senkrechten Felswände des einen Ufers in den Schichtenlinien die getreuen Abbilder der des gegenüberliegenden waren.

Ich machte zwei Damen darauf aufmerksam und, lachen Sie nicht darüber, daß ich es erwähne, gleich nachher trat ein Herr zu mir und nannte mir meinen Namen, indem er bemerkte, daß er sich in meinem Gesicht nach dieser geologischen Hindeutung vollends wieder zurecht gefunden habe. Er hatte mich vor Jahren über ähnliche Dinge in Mainz einmal öffentlich sprechen hören. Dies gehört aber zu meinen heutigen Reisefreuden, und darum werden Sie mir die Erwähnung wohl erlauben. Beweise davon zu erhalten, daß man nicht vergeblich zu Freunden der Natur von der Natur gesprochen hat, ist der süßeste Lohn für den treuen Jünger derselben.

Bald lag in Flüelen das Ende des Urnersees vor mir und in die Oeffnung des Felsenthales, welches bis hierher der See bis zum Rande ausfüllt, trat der schneebedeckte 9466 Fuß hohe Bristenstock, ein Berg, so schön und so edel in seinen Formen, wie die Schweiz vielleicht keinen andern hat. Nach wenigen Minuten wendeten wir uns zur Umkehr, und ich genoß bis Brunnen in vollen Zügen noch einmal. Die Sonne war eben erst über die Kuppen der Uferberge getreten, von denen kaum einer weniger als 1000–2000 Fuß über dem Spiegel des See’s emporragen mag, und sendete ihre scharfen Streiflichter herab über grüne Matten und dichte Waldung, und entfaltete ein wahres Gaukelspiel der Beleuchtung. Inzwischen schwebten oben um die zackigen Häupter blendend weiße Nebelwolken, denen sich immer neue hinzugesellten, aus den finstern Schluchten an’s sonnig helle Tageslicht hervordrängend. Die mächtige Frohnalp bei Brunnen und die jenseits Brunnen auf demselben Ufer wie ein himmelhohes, steiles Dach aus dem See aufragende Hochfluh umgürteten luftige Wolkenbänder, und warfen doch tiefdunkle Schatten auf dieselben, während gegenüber dem mächtigen Ober-Bauen der Uri-Rothstock mit seinen weißen Zacken hervorlugte. Alles dies schien mir in nächster Nähe neben und hinter einander vor mir zu stehen. Die Klarheit der Luft täuscht gewaltig über die Entfernung und läßt die Alpenlandschaft wie ein frisches, fein ausgeführtes Bild erscheinen. Ja, ich möchte es fast übersättigend nennen, weil der Phantasie kaum etwas zu thun übrig bleibt. Als ich nachher am Ufer von Luzern bald links nach vom Rigi, bald rechts nach dem Pilatus emporblickte, die von hier aus nur in fünf und sechs Stunden zu ersteigen sind, so erschienen mir aus ihrer luftigen Höhe ihre Wände als ein scheinbar ganz nahes Mosaik feinster und doch erkennbarer Art, obgleich ich annehmen konnte, daß sich das feine Mosaik in der Nähe in mächtige Felsenstücke und Gebüsch ausgelöst haben würde. Der Weg des Dampfbootes bog bald rechts, bald links an das Ufer, um Reisende aufzunehmen oder zu entlassen. Die fast überall steil aus dem See aufsteigenden Felsenwände, zwischen denen eine Menge kleiner Einbuchtungen liegen, entfalten ohne Unterbrechung einen überraschenden Wechsel der immer neuen Landschaftsbilder, so daß man oft eine ganz andere Ansicht hat, als man fünf Minuten vorher hatte. Kurz vor Luzern entsendet der See links den Alpnacher und rechts den Küstnacher See, und bildet mit diesen seinen beiden Armen rechts und links je zwei Vorgebirge, auf deren einem rechten der Rigi und auf einem der gegenüberliegenden linken der zackige Pilatus thront. Wir landeten und möglichst schnell entschlüpfte ich meinem empfehlungswerthen „Rößli“ wieder, um mich im Schauen des bezaubernd schönen Seebildes zu versenken. Die sonntägliche Lebendigkeit der Luzerner und das Gewühl der Reisenden umsummte mich, und als ich erst spät am Abend mich losgerissen hatte, fühlte ich nur das eine Bedauern, diesem Briefe nicht ein in glühenden Farben gemaltes Bild beifügen zu können.







Aus einer der höchsten menschlichen Wohnungen Europa’s.

Faulhornhaus, den 27. August.

Aus dem ländlichen Meiringen geleitete mich und drei bald befreundet gewordene Begleiter der Reichenbach mit seinen abgestuften Fällen beinahe unmerklich in die Höhe. Der mittlere und der obere Fall sind auf wahrhaft unwürdige Weise dadurch verunstaltet, daß man sie durch vorgebaute Bretterhäuschen gewissermaßen eingesperrt hat, und man an die unnatürlichen Vormünder der Natur eine Steuer, ein Schaugeld zahlen muß. Ist es nicht eine Schande für die Schweizer, mit ihren Naturschätzen solch’ kleinlichen Wucher zu treiben? Nach fast zweistündigem Steigen gelangten wir an das Rosenlauibad, während zur Rechten, bald zwischen Blöcken, bald in unsichtbar tief ausgehöhltem Bett der Reichenbach schäumend und tosend brausete. Vom Rosenlauibad ist es noch eine Viertelstunde bis zum Rosenlauigletscher, dem schönsten von allen und dem erklärten Liebling aller Reisenden. Rein von allem Moränenschutt liegt die im zarten Blau schimmernde ungeheure Eismasse, zwischen den Engelhörnern und dem Wetterhorn eingebettet, vor dem überraschten und entzückten Wanderer. Senkrechte, tief eindringende Spalten bilden Eiscoulissen, in denen man im reinsten Himmelblau steht und sich in ein Zaubermährchen versetzt glaubt. Tief unter dem Gletscherfuße (dem abschmelzenden Ende des Gletschers) gähnt, von einem dunkelblau durchsichtigen Eisdome überwölbt, ein tiefer Schlund, auf dessen unsichtbarer Sohle das Gletscherwasser abströmt, und nicht weit vom Rosenlauibade mit einem vom Schwarzwaldhorne kommenden Bache sich vereinigend, die unerschöpfliche Quelle der Reichenbachfälle bildet.

Zum ersten Male befand ich mich hier an der Grenze des Knieholzes, und sah mich umringt von den noch zum Theil in Blüthe stehenden Alpenpflanzen. Letztere waren allerdings noch nicht jene niedlichen Gestalten, die ich erst später auf der Spitze des Faulhornes fand. – Weiter ging es nun der großen Scheideck zu; ein langer schmaler Kamm, verbindet sie das Wetterhorn, den Nachbar des Rosenlauigletschers, mit den dem Brienzer See entsteigenden Bergen. Aus der Zinne der Scheideck überblickten wir das herrliche Grindelwaldthal, und von Zeit zu Zeit donnerte es in den Eingeweiden des Wetterhornes und je nach unserem Standpunkte floß bald darauf aus einer sichtbaren oder durch seitliche Stellung unserer kleinen Schaar aus einer verdeckten Bergschlucht eine Lawine herab; floß, sage ich, denn der jetzt auch in der Region des ewigen Schnees auf das geringste Maaß verminderte Vorrath des sich nicht mehr ballenden Schnees bildet reizende Milchkaskaden, und diese streuen ihre sich nach allen Seiten hin leicht ausbreitende Spende als blendendweiße Schuttkegel an dem Aufhaltspunkt ihrer senkrechten Sturzlinie aus. Noch vor dem Uebergang über die Scheideck hing zu unserer Linken der kleine Schwarzwaldgletscher herab. Jenseit des Scheideckkammes folgte ihm das ungeheure Eismeer des großen und das kaum geringere des kleinen Grindelwaldgletschers, deren Firnmulden mit den dahinterliegenden ungeheuern Schneefeldern die Kuppen des Wetterhornes, des Schreckhornes und des Eighers verbinden. Bald aber verhüllten uns aufsteigende Nebel die höheren Kuppen der genannten Horne, und von ihren Nachbarn, von dem Mönch bis zur Blümlisalp sahen wir keine Spur. Nach beinahe fünfstündigem Steigen gelangten wir endlich von der großen Scheideck, zuletzt von Kälte erstarrt, auf der Spitze des Faulhornes an. Etwa die letzten Tausend von den 8261 Fuß seiner Höhe befand ich mich in einem entzückenden botanischen Garten der Alpenpflanzenwelt. War auch die eigentliche Blüthenzeit vorüber, so fand ich doch noch viele Alpenpflanzen in Blüthe, namentlich aus den Gattungen Gentiana, Phyteuma, Saxifraga, Lepidum, Arenaria, Draba, Campanula, Gypsophila. Die Region der Alpenpflanzen machte jetzt auf den Unaufmerksamen den beinahe unerquicklichen Eindruck unserer mit ganz kurzem moosweichen Rasen bedeckten Viehtriften, und man muß den Teppich genau ansehen, namentlich jetzt, wo wenig Blumen zu sehen waren, um die einzelnen moosartigen kleinen Polster der kleinblättrigen Alpenpflanzenstöcke zu erkennen. Etwas weiter unten hatte mich der prächtige blaue Sturmhut, (Aconitum napellus) erfreut, der meist in dichten Trupps in den kleinen Einsattelungen der Bergwände stand.

Um sieben Uhr kamen wir in dichten Nebel gehüllt auf der Spitze an, und mußten an manchen Stellen durch vor einigen Tagen

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