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Der Kreml.


Der Kreml.


Die Krönungsfeierlichkeiten zu Moskau, der alten heiligen „Stolnitza“ (Hauptstadt) des großen Czarenreiches, ziehen seit Monaten schon die Aufmerksamkeit Europa’s auf sich, und die Correspondenten aller Zeitungen unterhalten uns, wie lange schon, von den gewaltigen Vorbereitungen zu dieser excellenten Haupt- und Staatsaktion. Unseren Lesern wird es daher nicht unerwünscht sein, daß wir eine Abbildung des Kreml bringen, des Schauplatzes jener Weltceremonie, welche dieser Tage vor sich geht.

Der Kreml ist eine große Feste, mitten in der Stadt Moskau und an dem Flusse Moskwa gelegen. Mehr als eine Stunde braucht man, um ihn zu umgehen; englische Gartenanlagen machen neuerer Zeit seine nächste Umgebung zu einer angenehmen Promenade. Aus letzterer hervor ragen nun die furchtbaren Mauern, was sage ich, Mauern, – die Gebirge des Kreml; denn diese weißen, ungleichen, zerrissenen Wände gleichen einer Kette von Bergen. Wenn der Riese, den man das russische Reich nennt, ein Herz hätte, so könnte man den Kreml das Herz dieses Ungethüms nennen. Der Anblick dieses Bauwunders, das eine ganze Stadt, eine Feenstadt zu umfassen scheint, ist mährchenhaft; man glaubt eine Landschaft von Stein zu erblicken. Das Terrain ist außerordentlich hügelig, die monströse Umfassungsmauer mit ihren phantastischen Thürmen, folgt mit außerordentlicher Kühnheit, große Stufen bildend, den Einschnitten des Bodens. Darüber hervor ragt nun ein Labyrinth von Palästen, Museen, Thürmen, Kirchen und Gefängnissen, welche diesen Lieblingsaufenthalt der alten moskowitischen Fürsten zum Kostbarsten des Landes und zum Nationalheiligthum machen.

Diese seltsamen Gebäude, ungeheuren Wälle, diese Menge von Spitzbögen, Gewölben, Thürmen, Zinnen, alle in Gold und den prächtigsten Regenbogenfarben erglänzend, Häuser wie riesige Blumenteppiche verziert, Thürme und Thürmchen, angeputzt wie festliche Figuren. Und nun diese ungeheure Größe aller Dinge, diese Massenhaftigkeit, die Risse in den Mauern! Das Bild gibt eine der originellsten und poetischesten Dekorationen in der Welt. Man vermag aber den Eindruck mit Worten nicht zu schildern.

Der Kreml auf seinem Hügel erscheint von Weitem wie eine Fürstenstadt, die mitten in einer Volksstadt gebaut ist. Dieses absolute Kastell, dieser stolze Steinhaufen überragt die Wohnungen der gemeinen Menschen mit der ganzen Höhe seines Felsens, seiner Mauern und Thürme, und je näher man dieser unzerstörlichen Masse kommt, diesem unvergänglichen Zeugen der erhabensten Wendungen der Weltgeschichte, dieser Endsäule der Siegeslaufbahn eines großen Napoleon, desto höher steigt die Bewunderung. Der Kreml zeugt, wie die Knochen gewisser Riesenthiere, von der Geschichte einer Welt, an der wir unwillkürlich noch zweifeln, selbst wenn wir die Trümmer derselben wiederfinden.

Doch wir dürfen uns nicht mit Schilderung des unvergleichlichen Eindrucks befassen, welchen der Kreml, diese Hinterlassenschaft der Fabelzeit, auf jeden Europäer hervorbringen muß, sondern gedenken den Leser mit der innern Oertlichkeit und den Gebäuden etwas vertraut zu machen, um sich bei Erzählung der Krönungsfeierlichkeiten darnach orientiren zu können.

Drei Haupteingänge führen zum Kreml, heilige Thore; das heiligste darunter ist das des Erlösers (spas worota), die Propyläen der moskowitischen Akropolis! Es führt, wie auch das Nikolaithor vom krassnoi ploschtschad (vom rothen Platze) aus in den Kreml, dessen Mauern ein großes Dreieck bilden. Innerhalb derselben liegen nun alle die interessantesten und historisch wichtigsten Gebäude Moskau’s, die heiligsten Kirchen der Stadt mit den Gräbern der alten Czaren, Patriarchen und Metropoliten,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 509. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_509.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)