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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Sie verhüllte ihr Gesicht.

„Und,“ fuhr ich fort, „ist es nicht namentlich für Sie ein Glück, daß er nicht wiederkommen darf? Verdient sein Betragen nicht eine schärfere Bezeichnung, als die des bloßen Leichtsinns?“

„Ich liebe ihn.“

„Das gerade wäre Ihr Unglück, wenn er zurückkehrte.“

„Auch jetzt?“

„Sie werden ihn vergessen.“

„Nie, nie!“

Dabei blieb sie. Es war wirklich eine unbegreifliche Liebe, die dieses reine Herz für den leichtsinnigen, für den mehr als leichtsinnigen Menschen fühlte. Liebe und Schmerz wuchsen mit jedem Tage.

Der vierwöchentliche Urlaub des Assessors von Grauburg lief zu Ende; niemand hatte daran gedacht, daß er zurückkehren werde. An dem Tage des Ablaufs brachte des Morgens um neun Uhr der Postwagen den Assessor; er kam allein zurück, aber frisch, munter und unbefangen, wie immer. Es war kein Sitzungstag. Er begab sich sofort, wie der Dienst es forderte, zu dem Präsidenten.

„Herr Präsident, ich melde mich von meinem Urlaub zurück.“

„Sie hatten mich also doch nicht verstanden, Herr Assessor?“

„Ich konnte nicht anders.“

„Mein Herr, wo es sich um die Ehre handelt, muß man Alles können. Sie hätten nicht hierher zurückkommen dürfen.“

„Herr Präsident, darf ich mir eine Bitte an Sie erlauben?“

„Was wünschen Sie?“

„Ich bitte um die Erlaubniß, um die Hand Ihrer Fräulein Tochter anhalten zu dürfen.“

Der Präsident stand sprachlos. Erst nach einer Weile konnte er Worte finden.

„Auf unsere Kosten,“ rief er entrüstet, „mit der Ruhe, dem Glücke, der Ehre meines Kindes wollen Sie Ihre Ehre wiederherstellen?“

„Ich liebe Ihr Fräulein Tochter.“

Der junge Mann sprach diese Worte im Tone des wahren Gefühls.

Der Präsident war ein alter, schon etwas hinfälliger Mann; er konnte auf ein langes Leben nicht mehr rechnen. Arm in den Dienst getreten, in dem er „von der Pike an“ gedient hatte, war der redliche, uneigennützige Mann arm geblieben. Nach seinem Tode stand seine Tochter ohne Vermögen, ohne Stütze da; sie hatte nichts, als was sie sich selbst erwerben konnte, als Gouvernante, als Gesellschafterin, oder in ähnlicher Weise. Der Herr von Grauburg war ein Mann von Talent und Kenntnissen; schon das mußte ihm eine gute Carrière verschaffen. Er war von Adel, seine Familie war mit den ersten Adelsfamilien am Staatsruder liirt; das mußte ihm eine „glänzende Laufbahn“ eröffnen. Er war leichtsinnig gewesen, mehr als leichtsinnig; aber das holländische Sprüchwort sagt: wer geraset hat, raset nicht mehr. Auch der Präsident kannte das Sprüchwort. Er sah den Assessor durchdringend an, und er las in seinen Augen die Bestätigung des Gefühls, mit welchem der junge Mann seine letzten Worte gesprochen hatte.

„Das geht meiner Tochter an,“ sagte er.

„Sie machen mich glücklich.“

Der Assessor ließ sich durch den Bedienten sofort bei dem Fräulein anmelden.

Die stolze Präsidententochter empfing ihn mit allem ihren Stolze, den sie vielleicht mühsam genug hatte zusammennehmen müssen.

„Mein Fräulein, ich befinde mich in einer so eigenthümlichen Lage, daß ich nur ohne alle Umschweife zu Ihnen reden kann.“

„Ich denke, Sie machen diese schon, mein Herr.“

„Fräulein, ich liebe Sie. Ich bitte um Ihr Herz und ihre Hand.“

Er nahm ihre Hand; sie ließ sie ihm; er drückte die Hand an sein Herz, an ihr Herz; sie litt auch das. Sie war verwirrt, betäubt, dann unglücklich, zuletzt glücklich. Sie waren Brautleute. Sie wurden Eheleute; sie waren glückliche Eheleute geworden, wenigstens so lange, als ich von ihnen gehört hatte.

Noch ein Jahr blieb der Herr von Grauburg Assessor bei dem Oberlandesgerichte in dem kleinen Städtchen; dann ging er zu der Verwaltung über, nach einer andern, weit entfernten[WS 1] Provinz des Staates.

Bald nachher hatte ich mein weiteres Examen gemacht, und auch ich wurde in eine andere Gegend versetzt.

Von dem Herrn von Grauburg und seiner Gattin hörte ich seitdem nichts mehr.

Freilich mußte ich noch oft an die schöne Therese zurückdenken, und wie sie im Mondschein ihre Thränen an meiner Brust ausgeweint hatte. Sie hatte sie zwar für einen Andern geweint, aber es durchzog dennoch ein süßes Weh mein Herz, wenn ich an sie dachte. Jedesmal aber auch, wenn ich dabei zugleich an den Mann denken mußte, für den sie die Thränen vergossen hatte, überfiel mich eine schwere Sorge um ihr Schicksal. Hatte nicht mindestens gegenseitiger Leichtsinn ihr Band geknüpft?

Zehn Jahre waren seit den erzählten Begebenheiten vergangen: ich wurde wieder in eine andere Provinz der Monarchie versetzt, und zwar als Mitglied eines Provinzialgerichtshofes, bei dem ich hauptsächlich Criminalsachen zu bearbeiten hatte. Ich kam in der zweiten Hälfte des Decembers an dem Orte meiner neuen Bestimmung an. Es war wiederum eine kleine Stadt, eine jener kleinen Beamtenstädte, in denen beinahe mehr Regierende, als Regierte wohnen. Es gab dort neben dem Obergerichte ein Regierungscollegium; ein Kavallerieregiment lag dort als Besatzung; eine große Menge von „Civil- und Militair-Unterbehörden“ gruppirte sich um diese Herren herum.

Ich war unverheirathet und quartirte mich für die erste Zeit in einem Gasthofe des Städtchens ein, an dessen Tafel ich auch speisete. Einige jüngere Leute, gleichfalls Beamte, Assessoren und Referendarien, waren bereits Tischgäste. Die Gespräche an der Tafel erstreckten sich meist nur über Geschäftsangelegenheiten.!

Der Beamte muß viel arbeiten, schon vom Referendarius an; das Klagen über viele Arbeiten wird ihm dadurch zur Gewohnheit; es gehört zum guten Ton in der Beamtenwelt, schon der Referendarius übt sich darin. Ueber Politik wurde selten gesprochen; nur die Skandalchronik des Städtchens brachte manchmal eine Abwechselung in die Unterredung.

Es war damals eine merkwürdige Zeit. Dem Könige war alles politische Treiben nach außen, jede Neuerung nach innen verhaßt. Gleichwohl ist keine Regierung mehr als die seinige von den Wechselfällen der europäischen Politik und von Neuerungen im Innern betroffen worden. Selbst noch nach 1815, in den langen fünfundzwanzig Jahren, in denen er nur mit Männern sich umgab, die jeder Veränderung der Regierung und Verwaltung noch mehr abhold waren, als er selbst. Der Geist der Zeit trieb die Widerwilligen rastlos vorwärts, bis sie zuletzt selber trieben. Indessen geschah das Alles, wie eben meist widerwillig, so fast unmerklich, nie wurde Geräusch davon gemacht, nie durfte Geräusch davon gemacht werden, man durfte nicht einmal sagen, daß es eine Neuerung ist, die man gemacht habe.

Der Grund lag klar vor; man fühlte, daß man immer mehr und mehr zum Umsturz des Bestehenden hingetrieben wurde und treiben mußte; das durfte nicht zum Bewußtsein der Menge kommen; der Unterthan durfte es nicht einmal ahnen. In dem Ahnen wurde schon dieser Umsturz selbst gefürchtet; in dem Sprechen darüber wurde die Revolution schon gefunden.

Deshalb gab es auch schon damals eine geheime Polizei gegen die Burschenschaften und andere „Demagogie“. Namentlich gab es vielfach im Lande geheime Agenten des Polizeiministeriums, die ihrem Chef Alles berichten mußten, was sowohl über äußere als innere Politik, besonders in den höheren Gesellschaften gesprochen wurde. Wo man sie erkannte, waren sie damals der allgemeine Gegenstand des Hasses und der Verachtung. Jedermann haßte und verachtete sie um ihres Metiers willen. Die Beamtenwelt, namentlich die höhere, haßte und verachtete sie noch ganz besonders aus einem andern Grunde. Es wurde jenen Leuten ostensibel ein anderes Amt überwiesen; bald waren sie Regierungsräthe, bald Richter, bald Steuerbeamte, bald selbst nur Subalternbeamte bei höheren Kollegien. So konnte einerseits der ehrenwerthe Beamte vermöge des „Dienstes“ nicht umhin, vielfach mit ihnen zu verkehren und die allgemeine Verachtung, die auf dem Verräther lastete, fiel nothwendig theilweise mit auf die Beamten, die mit ihm verkehrten. Andererseits waren sie eben Allen zu Aufpassern gesetzt, selbst den Präsidenten, Direktoren

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 494. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_494.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)