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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

No. 37. 1856.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Weihnachts-Heiligerabend.
Vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“
(Fortsetzung)

Der Offizier lachte laut auf. „Ihr lebt wohl idyllisch! Er, und gar Du? Nun, da hört Alles auf, nach Deinem eignen Lieblingssprüchworte. Aber das muß aufhören.“

„Lieber Herr von Münchhoff – “ Die Dame sprach leiser. Auch der Offizier redete nicht mehr laut.

Das Mädchen hörte nichts mehr.

Nach einigen Minuten entfernte sich der Offizier.

Was die Magd gehört hatte, erfuhr sofort die Magd in dem Nachbarhause, in welchem eine Rathsfamilie wohnte. Von ihrer Magd erfuhr es sofort die Frau Räthin. Sie ließ ihren Mann aus der Sitzung rufen. Während er gehorsam sich nach Hause verfügte, rief den Vorbeigehenden der Gastwirth an. Er erfuhr von diesem das, was in dem Gasthofe sich zugetragen hatte; später aber auch von seiner Frau das Weitere. Er flog zurück in die Sitzung, und konnte nur mit Mühe deren Ende abwarten. Nachdem sie beendet war, ging er mit dem ersten Präsidenten auf die Seite, und theilte ihm mit, was er erfahren hatte; und er theilte es ihm entsetzt, entrüstet mit. Hier läge eins der schwersten Attentate vor gegen die Sitte, gegen das Familienleben, gegen die Collegialität, gegen die Stadt, gegen den Justizdienst.

Der Präsident überlegte sich die Sache während des Mittagessens, ruhig, ohne ein Wort zu sprechen. Nach dem Essen ließ er den Assessor zu sich rufen.

Der Assessor trat völlig unbefangen bei ihm ein.

„Herr Assessor, ich habe Sie in einer sehr ernsten Angelegenheit zu mir bitten lassen.“

„Halten Sie sie in der That für ernst, Herr Präsident?“

„Sie wissen also schon? Und die Thatsache ist wahr?“

„Vollkommen wahr.“

„Die Dame ist nicht Ihre Frau?“

„Gott bewahre!“

„Was ist sie denn?“

„Mein Gott, Herr Präsident, wären Ihnen denn solche Verbindungen der Residenz unbekannt?“

„Aber wir leben hier nicht in der Residenz; und dann besteht ein anderer Unterschied. Wie durften Sie wagen, die Person in das stille, heilige Leben so mancher Familie hier einzuführen?“

„Herr Präsident, ich mache mir nur einen Vorwurf darüber, sie auch in Ihr Haus gebracht zu haben.“

„Was haben Sie vor?“

„Die Sache ist ruchbar geworden. Die Dame wird noch heute abreisen.“

„Und Sie?“

„Ich, Herr Präsident?“

„Ich sehe, Sie sind leichtsinniger, als ich glaubte. Sie wollten hier bleiben? Nach der Beleidigung, die Sie so manchen Familien zugefügt haben? Unter dem Geschrei und Skandal der ganzen Stadt?“

„Pah!“

„Sie mögen für sich darüber denken, wie Sie wollen. Im Interesse des Dienstes muß ich anders denken und handeln. Ich gebe Ihnen daher hiermit einen Urlaub von vier Wochen, von heute an. Verstehen Sie?“

„Ich verstehe.“

„Sie haben damit, zumal bei Ihren Verbindungen in der Residenz, ausreichende Zeit für Ihre Arrangements.“

„Ich verstehe auch das, Herr Präsident. Ich habe die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen.“

„Leben Sie wohl.“

Eine Stunde darauf war der Assessor mit seiner „Frau“ abgefahren.

Noch eine Stunde später rasete ein wilder Aufruhr durch alle Straßen und durch alle Häuser der kleinen Stadt; es war ein Aufruhr alles sittlichen und geselligen Lebens. Eine wirklich gemeine Person hatte der freche Mensch als seine Frau in die Familien einzuführen gewagt; sie war die Freundin der Geheime- und anderer Räthinnen, und der Geheimeraths- und anderer Räthinnen Töchter gewesen! Eine größere Frechheit, eine größere Unverschämtheit ließ sich nicht denken.

Ich konnte den Leuten wahrlich nicht Unrecht geben, wenngleich die Motive des Schreiens bei Manchem nicht besser waren, als das Verfahren des Herrn von Grauburg.

Am Abend ging ich zu der schönen Therese. Ich war sehr neugierig, wie ich die stolze Präsidententochter finden werde. Ich fand sie in Thränen.

„O, mein Freund, ich bin sehr unglücklich!“

„Unglücklich? Sie sprachen ja schon gestern aus, daß sie nicht seine Frau sei.“

„Nicht darüber, das wußte ich, das hatte mein Herz, meine Liebe schon längst gesehen. Sie konnte seine Frau nicht sein. Aber er ist fort; er kommt nicht wieder.“

Sie erzählte mir die Unterredung ihres Vaters mit dem Herrn von Grauburg.

„Durfte er wiederkommen?“ fragte ich.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 493. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_493.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)