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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

No. 35. 1856.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Der Schlüssel zum Engpaß.
Erzählung eines alten Tyrolers.

Lenore war in den westlichen Gebirgen der Schweiz geboren. Als sie das dreizehnte Jahr erreicht hatte, heirathete ihre Mutter, die Wittwe war, einen Tyroler und verließ ihre Heimath für immer.

Diese Heirath war nicht nach dem Sinn von Lenorens Bruder, der mit ihr in derselben Stunde geboren war und den sie mit ungewöhnlicher Zärtlichkeit liebte. Ehe daher noch das Ehepaar die Hälfte der Reise nach unserm Thale zurückgelegt hatte, wanderte er nach Norden und trat in bairische Dienste.

Lenore weinte eine Zeit lang bitterlich über seinen Verlust; allmälig tröstete sie sich, als sie hörte, daß er Soldat geworden sei und hin und wieder auf allerlei Umwegen noch Zeichen seines Andenkens zu ihr gelangten.

Bald kamen auch eigne Herzensangelegenheiten, denn Lenore war zur Jungfrau herangewachsen und Hans fand das Lächeln des fremden Mädchens noch verlockender als die Gemsenjagd. Er war der verwegenste Jäger und der sicherste Schütze im Thale, und da er jung und schön und dabei aufrichtig und edeln Herzens war, so billigte man die gegenseitige Liebe des schönen Paares in der ganzen Gemeine; wir betrachteten Lenore bereits als eine der Unsrigen und sie galt allgemein für das schönste Mädchen im Thale.

Zwischen die Freierei und die Hochzeit fiel aber die Mißhandlung unseres Landes und die Rache. Selbst unsere alten Felsen färbten sich roth von dem Wiederschein der Alarmfeuer und unser Bergstrom noch röther von dem Blut unserer Angehörigen und ihrer Freunde.

Da war nur ein Herz im Dorfe, welches nicht fühlte wie die andern und dies war Lenore’s. Ihr Bruder war bairischer Soldat und obgleich sein Regiment noch nicht zu dem Heuschreckenschwarm gestoßen war, welcher die Früchte unserer Thäler aufzehrte, so stand es doch nahe an der Grenze und konnte bald in Tyrol erwartet werden.

Lenore dachte an all’ diese Dinge, bis sie beinahe wahnsinnig wurde. Bei den Versammlungen in unserem Dorfe lauschte sie mit glühenden Wangen auf die Reden ihres jungen Geliebten, mit denen er, gleich wie mit einer Trompete, die Herzen seiner Kameraden erregte; aber wenn sie allein war, dann weinte sie, als wolle sie nimmer wieder aufhören.

Es war nicht eben sonderbar, daß sie befürchtete, ein Grenzregiment möge durch einen der großen Pässe marschiren, die in das Innere des Landes führten; aber daß sie hoffen konnte, ihren Bruder zu sehen, – ihn aus einem Corps von vielen Tausenden herauszufinden, die vielleicht in geschlossener Kolonne marschirten, oder Zoll für Zoll ihren Weg erkämpften, – und sich einzubilden, ihn unter solchen Umständen für die Sache der Ehre und Freiheit gewinnen zu können, muß sicher einer Art von Wahnsinn zugeschrieben werden.

Sie war selten zu Hause. Sie brachte ganze Tage und manchmal ganze Nächte damit zu, durch die Pässe zu wandern und den Schritten des Krieges zu folgen. Sie sprach selten und aß kaum genug, ihr Leben zu erhalten, und wenn die Natur sie zu einem fieberischen Schlafe zwang, so fuhr sie nach wenigen Minuten unerquickt daraus empor, als ob sie sich ihre Nachlässigkeit vorwerfe. Allmälig erlangte sie solche Kenntniß der wilden Lokalitäten in diesem Theile des Gebirges, als nur irgend Jemand jemals besessen hat.

Unterdessen füllte sich unser Thal mit Kriegsleuten, denn Hofer und seine Gefährten sammelten sich in großer Anzahl, um die Pässe des Brenners zu bewachen. Dies ist der Hauptweg in das Innere des Landes und die Landstraße nach Italien.

Lenore war die wachsamste und, man muß sagen, die geschickteste der tyrolischen Schildwachen; denn ihre Fähigkeiten waren durch Uebung erhöht und aufgeregt durch die stärksten und heiligsten Gefühle, welche das Herz eines Weibes bewegen können.

Der Hauptpaß und der einzige von dem man meinte, daß er einem bedeutenden Truppencorps den Durchgang erlaube, war nicht so sehr der Gegenstand ihrer sorgfältigen Aufmerksamkeit, als die kleineren Gebirgsschluchten, die nur dem Gemsjäger bekannt sind. Sie kam zu diesem Verfahren durch den Gedanken an die blutige Lehre, welche der Feind kürzlich erhalten hatte und bildete sich ein, daß, während er den Hauptpaß angriff, er auf andern Wegen das verhältnißmäßig kleine Truppencorps der Tyroler zu umzingeln versuchen würde. Wurde dies Manöver beschlossen, so war es wahrscheinlich, daß ihres Bruders Regiment mit der Ausführung beauftragt werden würde, denn es war gänzlich aus Bergbewohnern, meistens Schweizern gebildet, welche an Klippen und Bergströme von Jugend auf gewöhnt waren. Was sie indessen dabei in etwas beruhigte, war der Umstand, daß es nur einen einzigen Paß gab, durch welchen eine zu diesem Dienst ausersehene Kolonne frei genug passiren konnte, um von irgend welchem Nutzen zu sein, und diesem Fleck widmete sie daher ihre ganze Aufmerksamkeit.

Man hatte noch keine bestimmte Nachricht erhalten, ob die

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 465. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_465.jpg&oldid=- (Version vom 9.5.2017)