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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

zu welchen Theodor in solchen Zeiten seine Zuflucht nahm, aber dieses Mal war es doch etwas Anderes, da Papa wirklich Wort hielt und keinen Centime mehr schickte.

Der warme Sommer verstrich und der kühle Herbst und Winter kamen und in dem Zimmer des sechsten Stockwerks des Hauses Nr. 32 in der Rue des Carmes war es sehr kalt und die paar kleinen Holzscheite, welche in dem Kamin glimmten, konnten mit der geringen Wärme, die sie verbreiteten, kaum die erstarrten Finger Theodors und Clemence’s wärmen, welche letztere eben einen brillanten Blumenschmuck für die Toilette einer jungen, schönen Herzogin fertigte, während der erstere sich Excerpte aus den Pandekten und dem Code Napoleon machte und, da er gerade bei der Lehre von den Obligationen war, darüber nachdachte, ob er, der debitor, sich von seinen creditores, von welchen letzteren vorzüglich ein Speisewirth und ein Schneider sehr ungestüm wurden, durch ein Moratorium befreien solle, oder ob er sie durch eine cessio bonorum befriedigen – wobei freilich die Gläubiger am schlimmsten weggekommen wären – oder ob er gegen seine klagenden Gläubiger das beneficium competentiae geltend machen sollte. Theodor hatte nämlich eingesehen, daß sein Vater am Ende Recht habe und er sich einmal zum Examen bequemen müsse und arbeitete früh und spät, um das, was er des Prado und der Chaumière wegen versäumt hatte, wieder nachzuholen. Clemence aber arbeitete bis tief in die Nacht hinein, um das Geld zur Bestreitung ihrer kleinen Wirthschaft zu verdienen, da Herr Durand trotz aller Briefe unerbittlich blieb und keinen Sou schickte. Mit Hülfe des Mont de pieté, wie die Franzosen sehr euphemistisch das Leihhaus nennen, und Clemence’s erhöhtem Fleiß schlugen sich die beiden jungen Leute auch bis Ostern durch – aber Theodor wußte jetzt durchaus nicht, so sehr er sich den Kopf zerbrach, ein Mittel ausfindig zu machen, um die Kosten des Examens, welche sich auf ungefähr pränumerando zu zahlende 100 Fr. beliefen, aufzutreiben. Clemence sah die nachdenkliche, sorgenvolle Miene ihres Geliebten und seine Traurigkeit fiel ihr schwer auf’s Herz. Vergebens strengte sie ihren kleinen Kopf an, um zu entdecken, wie sie Theodor 100 Franken verschaffen könne, aber all’ ihr Sinnen blieb umsonst. Da fällt ihr, als sie sich in dem Modewaarenmagazine ihrer Prinzipalin befindet, um ihre Arbeit abzuliefern und neue zu holen, eine Nummer von „La Presse“ mit einer Ankündigung des Besitzers vom Hippodrom in die Hände. Als Clemence diese Anzeige gelesen, stößt sie einen leisen Freudenschrei aus und eilt dann spornstreichs zum Besitzer des Hippodrom.

„Mein Herr!“ redet sie ihn an, „ich habe Ihre Aufforderung gelesen und wünsche die Bedingungen zu hören.“

„Wie, Mademoiselle, Sie hätten den Muth?“

„Gewiß, mein Herr, wenn ich weiß, was ich dafür erhalte –“

„Zwanzig Franken für jede Vorstellung, wobei sie sich jedoch für wenigstens fünf Vorstellungen verbindlich machen müssen.“

„Wohlan! ich schlage ein; ich bin die Ihrige.“

Vier Tage später bewunderte Paris im Hippodrom einen aufsteigenden Luftballon, dessen Schiffchen die Gestalt eines Panthers hatte, auf welchem ein schönes junges Mädchen als Venus lag, umgeben von vier Amoretten, reizenden, jugendlichen Mädchengestalten. Diese Venus war Clemence, welche das gefährliche Kunststück gewagt, um die hundert Franken zu verdienen, welche sie für die fünf Vorstellungen erhielt und die sie Theodor, der nichts von der Sache wußte, zum Examen gab; aber die Aufregung und die Angst waren so stark gewesen, daß das arme Mädchen von einer tödtlichen Krankheit befallen und nur mit genauer Noth vom Tode errettet wurde. Die Geschichte ist nicht von mir erdichtet, sondern wurde mir so in Paris erzählt und später las ich sie sogar in den Feuilletons einiger pariser Blätter. Eine solche Handlung ist übrigens um so edelmüthiger, da diese Mädchen fast niemals hoffen dürfen die zukünftigen Frauen ihrer studentischen Geliebten zu werden, denn sobald die jungen Leute aufhören Akademiker zu sein, hören auch diese Verbindungen auf.

Bei all’ dem leichten Leben herrscht jedoch unter der studirenden Jugend von Paris ein gewisser hochherziger Geist, und obgleich durchaus keine Kopfhänger und Frömmler mit glattem Seraphsscheitel, hinter’s Ohr gestrichenem, langem Haar à la Puritaner und leise flüsternder Stimme von wohlgefälligem Wandel, Erbsünde, Versucher, Buße und Reue und Bruderliebe, haben sie doch bewiesen, daß sie, wenn es gilt – und das ist bei einem Manne die Hauptsache – Kopf und Herz auf der rechten Stelle haben.

Als im Anfange der dreißiger Jahre, kurz nach der Julirevolution, die Cholera zum ersten Mal auf ihrem Weltgange nach Paris kam und die Anhänger der vertriebenen Königsfamilie, insbesondere die legitimistischen Priester die Seuche als eine Strafe bezeichneten, die der Himmel über das aufrührerische Volk von Paris verhängt habe, weil es Karl X. vom Thron gestürzt; als unwissende oder schlechte Menschen von selbstsüchtigen Zwecken, oder finsteren Absichten geleitet von Brunnenvergiftungen und ähnlichen Verbrechen redeten, um dadurch Ausbrüche des wildesten Zornes, der Wuth und Zerstörung herbeizuführen, Scenen, wie sie nur das Mittelalter zur Zeit der Judenverfolgungen gesehen hat; als dunkle, düstere Prophezeihungen vom herannahenden, letzten Gericht die Gemüther der Schwachen ängstigten und schreckten, bleiches Entsetzen sich über einen Theil der Bevölkerung lagerte, während der andere, wie es immer bei solchen furchtbaren Epidemien der Fall, in toller Hast den Becher jeglicher Lust und wilden Sinnenrausches bis auf die Hefe leerte, um sich durch den Lärm wüster Orgien zu betäuben; als alle Fremden und Reichen die verpestete Stadt verließen, die Postanstalten und Messagerien nicht genug Wagen und Pferde schaffen konnten, um alle die Flüchtigen zu befördern und die Landstraßen nach den Provinzen mit Fuhrwerken aller Art bedeckt waren, um ihre Besitzer nach ihren Schlössern, Landgütern und Villa’s, überhaupt nur weg aus der vergifteten Luft von Paris zu bringen; als man die Kasernen zum Theil zu Spitälern umwandeln mußte, und kaum für schweres Geld Wärter für die Kranken finden konnte, die Aerzte aber unter der ungeheuern Anstrengung zu erliegen drohten, da erließ die medizinische Facultät und die Regierung einen Aufruf an die Studenten der medizinischen Schule, den Dienst bei den Kranken in den Choleraspitälern zu übernehmen, und den ältern Aerzten hilfreich zur Seite zu treten. Und schaarenweise drängte sich diese tapfere, wißbegierige Jngend herbei, um der tödtlichen Seuche ihre Opfer streitig zu machen, und da der rapide Charakter der Krankheit möglichst schnelle Hülfe und sorgfältige, ärztliche Ueberwachung der Leidenden erforderte, so schlugen je vier Mediziner in den Cholerasälen des Hotel de Dieu und der übrigen Lazarethe ihr Lager auf, und während zwei von ihnen fortwährend in dem Saal die Runde machten und die Kranken überwachten, schliefen die beiden Andern, bis die Reihe der Wache an sie kam, ebenso ruhig und sorglos unter den ächzenden und stöhnenden Kranken, wie in ihrem Stübchen des fünften oder sechsten Stockwerks in einem Hause der Rue de la Harpe oder St. Jacques. Hingebend und aufopfernd zeigten sie sich auch in den heißen Julitagen von 1830 und in den Februarkämpfen von 1848, wo sie mit Lebensgefahr die Verwundeten in den Straßen verbanden oder fliegende Ambulancen errichteten und die schwer Getroffenen in die Lazarethe geleiteten. Bei den Volksbewegungen in Paris spielen die Studenten der Rechts- und medizinischen Schule überhaupt eine bedeutende Rolle.

In der Führung der Waffen ist ihnen der deutsche Student übrigens durchschnittlich überlegen, da das Fechtbodenbesuchen von ihnen schon deshalb nicht so pünktlich geübt wird, weil es unter ihnen keine Verbindungen gibt, die wie bei uns, für ihre Mitglieder den Besuch des Fechtbodens zur statuarischen Vorschrift machen. Und während die deutschen Studenten – und wenn auch nicht Alle, doch wenigstens die Verbindungsleute – auf Korb- und Glockenschläger, krumme Säbel und Pariser sich „einpauken“, wie der technische Ausdruck heißt, so ist es bei jenen blos die letztgenannte Waffe, der dreischneidige Stoßdegen, den sie auf der Mensur gebrauchen. Sie schlagen sich deshalb auch meistens ohne Binden und Bandagen und nur um das rechte Handgelenk wird ein seidenes Tuch zum Schutz der Pulsader gewickelt. Wenn man in der Nähe des Waldes von Meudon, unweit des Teichs von Villebon, südwestlich von Paris oder unweit der Kalksteinbrüche des Montmartre ein paar Fiaker halten sieht, aus welchen vielleicht sechs Personen steigen, von denen einige etwas Glänzendes unter ihren Mänteln verbergen und die dann eine einsame, zwischen Gebüschen versteckte Stelle aufsuchen, so kann man annehmen, daß es pariser Studenten sind, die mit einander contrahirt haben, und hier die Sache abmachen wollen. In das Hölzchen von Boulogne gehen sie seltener; es ist dies der Ort, wo sich die aristokratischen Kavaliere das Blut abzapfen, und wo

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 463. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_463.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)