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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Lebensbilder aus den südrussischen Steppen.

Nach furchtbarem Kampfe weichen endlich die kalten Nord- und Ostwinde den warmen Lüften, welche vom schwarzen Meere herauf über jenes Plateau wehen, welches in einer Höhe von etwa 150 Fuß sich wagerecht im Süden Rußlands ausbreitet und als Steppenland den Unterlauf der großen Ströme und das Ufer des schwarzen Meeres umsäumt. Tagereisen weit deckt schimmernder Schnee die baumlose Ebene, deren ertödtendes Einerlei der Bodengestalt noch durch die Einfarbigkeit der Bedeckung bis zum Unerträglichen gesteigert wird. Der Schnee fängt an eine dunkle Farbe anzunehmen, an den Hängen der meilenbreiten Stromthäler und noch mehr an dem Rand enger Thäler und tiefer Regenschluchten wird hier und da schon ein Streifen Rasen schneefrei; heimlich sickern stille Wasserfäden an den gewölbartigen Bodenanschwellungen herab, die wie ein Wellenschlag die Ebene auf weite Strecke und kaum merkliche Weise um einige Fuß steigen und sinken machen, und in den 100–110 Fuß tiefen Regenschluchten fängt es an, unter der Schneedecke unheimlich zu rauschen. Denn die Schneewasser, welche von dem steilen Rande niederrinnen, sammeln sich auf dem Boden der Schlucht zu einem Bache, unterhöhlen die Schneemasse, von welcher die Schlucht ganz ausgefüllt ist, und da mit jedem Tage die Wassermenge zunimmt, da kalte Regen auch von oben herab den Schnee aufzehren, so verwandelt sich die Schneeschlucht sehr bald in das Bett eines schäumenden Baches, der brausend die Steppe und die sanfteren Thalgehänge hinabtobt. Da plätschert, rieselt, braust und schäumt es auf der ganzen Steppe, wo an jeder Bodensenkung Wasser hinabgleitet; in die Schluchten stürzen sich zahllose Cascaden, indem aus Acker- und Regenfurchen die kleinen Schneewässerchen in die Schlucht fallen, deren Erdwände auflösen, tief einschneiden und dem Schneewasser eine schmutzige Farbe verleihen. Am lautesten rauscht das Wasser im Hauptthale des Flusses, der über seine Ufer tritt, durch die unabsehbaren Schilfwaldungen braust, durch die Gestrüpp- und Baumgruppen der Ufereinfassung schäumt, die Wölfe zur Flucht zwingt und die zahllosen Enten, Gänse und Pelikane aus dem Schilfdickicht heraustreibt.

Kaum ist indeß ein Theil des Schneewassers abgelaufen, so stürzt der Nordwind mit furchtbaren Schneewettern vom Eismeer und dem Uralgebirge herab, bedeckt die Ebenen, stopft die Bachrinnen, daß die Wasser stocken und die Cascaden verstummen, bis der Südwind mit Regenschauern den Feind angreift, den Schnee verzehrt und die Wasserbäche wieder belebt. Bei diesem Wechsel der Witterung verwandelt sich der fette Boden der Steppe in einen Brei, welcher die Steppe selbst ungangbar macht. Ungeduldig schauen Pferde und Rinder über die Bretterwand des unbedeckten Schuppens, in welchem sie den Winter hungernd und frierend hinbringen, verlangend strecken sie den Kopf mit weitgeöffneten Nüstern empor, um die Frühlingslüfte aufzufangen; der Wolf und Steppenhund zittern vor Frost in ihrer Höhle und die Zieselmaus wagt sich noch nicht heraus aus ihrer unterirdischen Wohnung. Kläglich schreit die Dohle, welche beim Ausflug mühsam mit dem Sturme ringt; noch ist es still auf der Steppe wie im Flußthal, denn das Brüllen und Brausen der Bäche verschlingt jeden Thierlaut. Im Mai endlich behauptet der Frühling die Oberhand, Schnee und Regenwasser sind verschwunden und der Schlammboden verwandelt sich in wenig Tagen in ein unabsehbares Blumenfeld, denn frisches Gras, hohes krautartiges Gestrüpp wechseln mit meilenlangen Beeten von Crocus, Reseda, Tulpen, Hyacinthen, Königskerzen, Disteln, Wermuth, Steinklee, Knoblauch, Weißdorn- und Hollunderhecken, aus denen von Tagereise zu Tagereise auch einmal ein verkrüppelter wilder Birn- oder Apfelbaum seine blätterarmen Zweige erhebt. Jetzt liegt die Ebene überschaubar da mit ihren langen Strecken, aus denen nur hier und da ein Mongolen- oder Todtenhügel, eine Windmühle oder eine Gruppe hausartiger Heuschober oder ein Steppendorf mit seinen niedrigen Häusern emporragen. Weit schaut man über das Grasmeer von einer Bodenwelle bis zur andern, die sich als schwarzer Rand am fernen Horizont hinzieht; da bemerkt man nicht die vielgetheilten Schluchten, welche die Ebene in ein System von Würfeln und domartiger Kuppen zertheilen und den Reisenden oft zu weiten Umwegen zwingen.

So prachtvoll der blumenreiche Frühling auch als Gesammtbild auf der Steppe erscheint, so hat er doch im Einzelnen etwas sehr Ermüdendes. Denn die Blumen und Kräuter erscheinen nicht gemischt, sondern eine einzige Art bedeckt in endloser Wiederholung meilenweite Strecken, und außerdem sind die Pflanzen verwildert, schießen strunkartig hoch auf und verholzen. Ein paar Meilen weit sieht man nichts als Wermuth und Wermuth, wieder ein paar Meilnn nichts als Wicken, auf welche Königskerzen folgen oder Steinklee; eine Station lang sieht man nichts als hochhalmiges Seidenkraut mit seinen Millionen nickenden Seidenbüschel, eines Mittagsschlafslänge Salbei und Lavendel, einen Horizontkreis voll Tulpen, ein Resedabart von zwei Meilen im Umkreis, ganze Thäler voll Kümmel und Krausemünze, unbegrenzte Hügelgewölbe mit Windhexe und sechs Tagereisen mit frischem, kurzstieligem Gras. Ueppig schießen diese Gewächse in Strunk und Zweige, nur das Gras bleibt kurzhalmig. Die Distel erreicht Höhe und Gestalt eines Kirschbaumes und bildet große Gehölze, zwischen denen sich die Wohnungen der Kosaken verlieren und die dem Reisenden jede Umsicht verwehren, denn der Kopf der Windhexe wächst bis zu einem Umfange von 12 Fuß und zu einer Höhe von 3 Fuß an; Wermuth und Königskerze bilden mannshohe Gebüsche, die Schafgarbe wird 4–6 Fuß hoch, der Stamm des wilden Klee verholzt, daß er als Spazierstock kann gebraucht werden, Wolfsmilch, Kohlrüben, Pastinaken gedeihen so mächtig, daß man sie nur vom Pferde oder Wagen herab übersehen kann, und da sie lose und locker neben einander wachsen, bilden sie unwegsames Gestrüpp.

Zwischen diesen Kräuterwäldern breiten sich unabsehbare Strecken kurzer Grasweide aus; dort wächst das breite Schweins- oder Bärenöhrchen mit den dicken von sammetartigem Filz überzogenen Blättern, welche von den Steppenbewohnern als Charpie benutzt werden, wachsen zwischen Ringel- und Mohnblumen gelber Hederich, süße Honigblumen und duftiger Balsam, riechender Knoblauch und Sellerie, weißer Kümmel und aromatische Salbei, rothe Immortellen und Quendel, Krausemünze und Lavendel, Wicken und Steinklee, so daß die Steppe mit ihren massenweis bei einander stehenden Blumen einerlei Art in den Farben eines unabsehbar breiten Regenbogens schimmert. Nun verläßt der in Schafpelz gekleidete Steppenbewohner seine Winterwohnung, die er halb in die Erde grub, freut sich des mattblauen Himmels, an welchem Gewitter blitzen und donnern, aber nur selten Regen geben, labt sich an der Blüthe des Schlehdorns, der in klafterhohen Hecken neben seiner Hütte zu stehen pflegt und seinem Hausgeflügel als Zuflucht gegen Habicht und Falken dient, schneidet sich vom Birnbaum den Peitschenstiel, wenn er mit schnellem Gespann die Steppe durchjagen will, bestreut mit duftendem Gras den Fußboden seiner Wohnung, schmückt mit ihm Spiegel und Wagen, bereitet sich aus Steppengewächsen die würzige Kräutersuppe, steckt dem Pferd einen Blumenbüschel hinter’s Ohr, hängt aromatische Pflanzen in Bündeln an der Zimmerdecke auf, nagelt ein Balsambouquet über die Thür, bekränzt mit Gras und Blumen die Heiligenbilder, befestigt rings an Wand und Hausgeräth kreuzweis Lavendel- und Balsamsträußchen, von denen er von Zeit zu Zeit einige Zweige abrupft, um sie zu kauen. Das Steppengras ist ja sein Erhalter und Ernährer, da es seine Heerde weidet, und bunte Steppenblumen flechtet seine Tochter sich täglich in’s dunkle Haar. Er hat ja nur die Steppe, die ihm alle Bedürfnisse befriedigen muß, von der ihm Alles lieb und werth ist. Der Birnbaum und der Mongolenhügel sind seine Wegweiser, an beide knüpfen sich seine Erinnerungen und Sagen, der Schlehdorn gibt ihm Blüthen und Früchte, gibt ihm den Stachel zum Ochsenstecken und die Zinken zu jener Egge, mit welcher er die Heuschrecken zerfleischt und zerstückelt, den Schlehdorn besingt er im Liede, das Steppengras feiert er im schwermüthigen Gesange; der Steppe verdankt er den Reichthum seiner Sprache, seine Beschäftigungen, seine Poesie, seine Existenz. An ihr Leben, an ihre Veränderungen knüpft er sein Leben, sein Denken und Dichten; mit Steppengras feiert er sein Pfingsten, seine Heiligthümer.

Mit dem Frühlinge erwacht auf der Steppe aber auch ein reiches Thierleben, welches sich hier in Freiheit entwickelt und tummelt, denn wenn auch des Morgens und Abends graue Nebel aus den feuchten Schluchten aufsteigen, so bleibt die Steppe

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 458. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_458.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)