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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

der letzteren Meinung soll gelten, daß verschiedene Hörer bei derselben Instrumentalmusik oft ganz verschiedene Empfindungen hätten.

Daß solche Gedanken in einem Menschenkopfe entstehen und von ihm für wahr gehalten werden, gehört nicht unter die unglaublichen Dinge. Vor welcher Idee schreckte die Neuerungssucht zurück, und welcher noch so große Irrthum wäre nicht durch eine geschickte Dialektik plausibel zu machen! Aber erstaunen werden Sie, wenn ich Ihnen sage, daß fast alle Journale jenes Werkchen als ein geistreich und richtig gedachtes begrüßt haben!

Singen Sie einmal zu der Melodie der Brautjungfern im Freischütz, anstatt: „Wir führen dich zu Spiel und Tanz“ – die Worte: „Wir führen dich zum Hochgericht.“ – Oder zu Papageno’s Melodie: „Der Vogelfänger bin ich ja“, Sarastro’s Worte: „In diesen heil’gen Hallen“ – und sagen Sie mir dann, ob Ihnen diese Melodien mit beiden Lesarten gleich wahr erscheinen? Hören Sie vier Mal hintereinander einen und denselben straußischen Walzer, wozu keine Worte gesungen werden, und versuchen Sie, das erstemal jauchzende Lust, das zweitemal tiefe Trauer, das drittemal zarte Liebessehnsucht, das viertemal knirschende Wuth daraus hören zu wollen! Oder versuchen Sie, in einen und denselben beethovenschen Symphoniesatz alle Seelenstimmungen zu legen, die Sie wollen. Wenn diese Experimente nach Ihrem Willen ausfallen, so ist die wiener Behauptung richtig; wenn Sie dabei empfinden müssen, was die Komponisten gewollt, so ist sie falsch.

Es ist in der That unbegreiflich, wie man dem Verein der zahlreichen Musikelemente die Ausdrucksfähigkeit der Gefühle absprechen kann, da es kaum einen Menschen geben wird, dem nicht schon im gewöhnlichen Leben die analogische Kraft des einzelnen Elementes oft genug vor die Sinne treten muß. Auf der Trommel sind nur Rhythmus und Schall darstellbar. Wie verschieden zeiget sich die Verwendung beider Mittel bei dem Trauermarsch und dem Sturmmarsch! Jener hat langsame Rhythmen und gedämpfte Klänge, dieser schnelle und rauschende. Was diktirt den verschiedenen Gebrauch der Rhythmen und Klänge in diesem Falle? Ist es nicht die Analogie mit den inneren Empfindungen? Die Trauer bei jenem, die muthige Erregung bei diesem? Nach der neuen ästhetischen Lehre könnte das zu dem Trauermarsche ausgesprochene Wort „schnell“ den langsamen Rhythmus in einen schnellen, das Wort „hell“ die gedämpften Trommeln in rauschende für unser Gefühl verwandeln? Oder durch die dazu gesprochenen Worte: „heisa, hopsa, trallera“, verwandeln sich die traurigen Rhythmen und Klänge der Trommeln in heitere? Wenn aber in diesem Falle durch widersprechende Worte dem Rhythmus und Klang der Trommeln ihr Ausdruck nicht weggeschwatzt werden kann, so muß er diesen Elementen ursprünglich und eigentümlich sein. Und wenn bei Ihnen die Worte: „Wir führen dich zum Hochgericht“ eine grauenvolle Vorstellung und eine traurige, peinvolle Empfindung erwecken, die oben erwähnte weber’sche Melodie aber eine heitere Stimmung bezeichnen, so müssen die Töne an sich eine ursprüngliche und eigenthümliche Analogisirungs- und Ausdruckskraft besitzen, denen widersprechende Worte nichts davon nehmen können.

Mit dieser, nicht wegzuästhetisirenden Erfahrung wollen wir uns für heute begnügen. Sie werden durch die folgenden Briefe erfahren, daß für Den, welchem die Einsichten in das Wesen der Tonkunst vollständig erschlossen sind, das Verständniß auch der reinen Instrumentalwerke von solchen Meistern, die sich in bestimmte Gemüthszustände zu versetzen, und dieselben durch die musikalische Analogie deutlich und sicher zu schildern vermochten, ohne Beigabe von Worten möglich ist.




Eine Fahrt mit dem alten Jahn.
Von Wilhelm Künstler.
Ein Briefchen. – Weißenfels. – Der alte Jahn und seine Gesellen. – Die Denk-Ohrfeige. – Goseck. – Der Janushügel. – Schönburg. – Louisenruh. – Ein Abend in Jahn’s Wohnung. – Napoleon in Freiburg. – Herr v. Bodelschwingh.

Der Pfiff der Lokomotive, dieses Wehgeschrei der Industrie – wie ihn der bekannte Consistorialrath Dr. Tholuck in Halle einmal schmerzlich genannt – erweckte mein Gegenüber im Coupé, einen behäbigen Berliner, aus seinem Halbschlummer.

„Mein Gott,“ sagte der Sandländer, indem er sich die Augen rieb, „wo sind wir denn hingezaubert? Hier ist ja ein förmliches Paradies, schöner als im Thiergarten. Guter Gott, wir halten ja inmitten von Weinbergen!“

„Station Weißenfels!“ verkündete die Stentorstimme des Schaffners.

„Ah,“ äußerte mein Berliner schmunzelnd, „das ist also das liebe Städtchen, wo die Herren Trinius und Bürger ihren himmlischen Champagner fabriciren!“ Und an den Schaffner sich wendend, fuhr er fort: „Liebster, gutster, bester Herr Oberconducteur, haben wir noch viel Zeit übrig, hier einer Flasche Moussé den Hals zu brechen ?“

„Der Zug geht unbedingt und effektiv in zwei Minuten ab,“ antwortete der Gefragte mit der Bestimmtheit eines Dictators und zugleich mit jener graziös-martialischen Tournure, die uns in den meisten dergleichen preußischen Eisenbahnbeamten den ehemaligen Unteroffizier leicht wieder erkennen läßt.

Während dieses Zwiegesprächs hatte ich einen Knaben beobachtet, der – in Turntracht und einen Zettel in der Rechten – den Perron auf- und abging und irgend einen Passagier zu suchen schien. Als ich mich plötzlich erinnerte, den jungen Turner öfters in Freiburg a. d. Unstrut gesehen zu haben, wurde auch er meiner gewahr.

„Hier bringe ich Ihnen etwas!“ rief er vergnügt aus, und nachdem er mir das Papier in die Hand gedrückt, war er auch schon wieder verschwunden.

Der Zettel aber war mit folgenden Worten beschrieben:

„Ich habe mehren Berlinern, so mich gestern auf ihrer Turnfahrt aufgesucht, heute mit dem Frühesten das Geleit gegeben und zwar gegen meine Gewohnheit weit über die Grenzen des Weichbildes hinaus. Die Leute waren verschieden an Jahren, wie an Bildung; ja der Eine seines Zeichens sogar ein – Schneider. Aber frisch waren sie Alle und unter ihnen Keiner, der ein bloßer Maulturner. Da ich nun die Rückfahrt nach meinem Heimwesen heute im Zickzack auszuführen gedenke, so wär’ es mir lieb, wenn wir selbander wanderten. Wie ich hoffe, verschmähst auch Du vor einem Garten Gottes, wie solcher sich hier aufthut, den leidigen Schienenweg, wenn es anders nicht die Noth erheischt. Verlaß drum in Weißenfels den Dämpfer und erwarte mich dort eine Stunde nach Deiner Ankunft bei Freund G. – Mit Herz und Hand

Dein F. L. J.“

„Ah,“ rief ich bei Lesung der ersten Zeilen aus, „das kommt vom Alten!“ Denn obgleich das Papier nur mit den drei Buchstaben F. L. J. unterzeichnet war, so kannte ich doch Handschrift und Styl Friedrich Ludwig Jahn’s zu genau, als daß ich nicht sogleich an ihn hätte denken sollen. Ich schickte mich sofort zum Aussteigen an, indem ich meinen bisherigen Reisegefährten schnell mit dem Inhalt des empfangenen Billets bekannt machte.

„Herr!“ rief hierbei mein Berliner plötzlich aus und zwar so erregt, wie es bei ihm wohl selten der Fall sein mochte. – „Herr, ist das Vater Jahn, der heute hier eintreffen wird?!“

„Viele nennen ihn allerdings Vater Jahn.“

„Der Professor?“

„Der Doctor Friedrich Ludwig Jahn.“

„Der einst bei uns in der Hasenhaide –?“

„Das Turnen mehre Jahre hindurch geleitet hat.“

„Der Professor Jahn? Der Lützower, der dann in Colberg –?“

„Ja, ja, derselbe! Ich merke schon, mein Herr, der Mann ist Ihnen nicht unbekannt.“

„Liebster, Gutster, Bester! ich steige mit aus; ich muß Vater Jahn von Angesicht zu Angesicht kennen lernen. Wissen Sie, einer meiner Onkels hat unter ihm im Gefecht beim Waldschloß Göhrde gekämpft, einer meiner Schwäger ist während des Waffenstillstandes

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 436. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_436.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)