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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Mit freundlicher Gefälligkeit war er für mich besorgt, und in einer Viertelstunde war ich völlig heimisch. Der Tisch ward an den warmen Ofen gerückt, und nachdem ich meine Abendmahlzeit verzehrt hatte, brachte mein Wirth eine Flasche Wein. Er füllte die Gläser, und mit mir anstoßend, sagte er: „Da ich Sie auf eine so seltsame Weise empfangen habe, bin ich auch verpflichtet, Ihnen den Schlüssel zu diesem Empfange zu geben. Sie könnten sonst Seltsames von mir denken. Sie haben bemerkt, wie sehr mich der Name Alexis bewegte. Ein liebenswürdiger Knabe hieß so, den einst ein Zufall – nein, nicht Zufall, sondern die gütige Vorsicht mir zuführte, und dem ich alle Liebe und Zuneigung schenkte, deren dies Herz fähig ist. Der Knabe war mehrere Jahre bei mir; ich sah ihn sich allmälig entwickeln, ich weckte seinen Geist und freute mich, die Saat, welche ich streute, so schöne Früchte tragen zu sehen. Dies Glück dauerte bis zu der Stunde, wo ich ihn auf eine eben so räthselhafte Weise verlor, als ich ihn einst fand. Alexis –“

Der Pfarrer hatte mich während dieser Mittheilungen fest angesehen. Seine Unruhe kehrte wieder, als er jetzt abermals den Namen seines Pfleglings nannte. Er unterbrach sich:

„Entschuldigen Sie! – Aber, je mehr ich Sie betrachte – Sie nennen sich auch Alexis? Ich finde den Zusammenhang nicht, aber die Thatsache besteht. Die Aehnlichkeit zwischen Ihnen und jenem unglücklichen Knaben ist wirklich wunderbar.“

„Das wäre allerdings seltsam!“ entgegnete ich. „Aber sollten Sie sich nicht abermals täuschen?“

„Täuschen?“ sagte der Pfarrer. „Das mögen Sie selbst entscheiden. Der Knabe ward von der ganzen Gemeinde geliebt, und selbst Fremde, die hier flüchtig durchreisten, legten Theilnahme für ihn an den Tag. Ein Maler, der sich einige Zeit in diesem Thale aufhielt und bei mir wohnte, wollte mir ein Gastgeschenk zurücklassen und malte Alexis. Ich hole Ihnen das Bild.“

Der Geistliche nahm ein Miniatur-Portrait aus seinem Schreibtische und reichte es mir. Als Maler war ich keinen Augenblick in Zweifel. Das Bild glich mir. So mußte ich in meiner Kindheit ausgesehen haben. Ich konnte mich von dem Anblick nicht trennen.

„Es geht Ihnen, wie Jedem, der es sieht,“ sagte der Geistliche. „Aber lassen Sie mich meine Mittheilung beenden.

„Die Wohnungen meiner Gemeinde liegen in dem Thale zerstreut umher. Will ich die Pflichten meines Amtes gewissenhaft üben, muß ich manche beschwerliche Wanderung unternehmen, von denen ich öfters erst bei einbrechender Nacht wiederkehre. Eines Abends erreiche ich, mehr als sonst erschöpft, die Straße, welche aus unserm Gebirgskessel hinab in die Ebene führt. Die untergehende Sonne wirft ihren letzten Strahl darüber hin, und ich gewahre, von all’ dem hellen Glanz umgeben, einen Knaben, der sich mir mit allen Zeichen der Angst zu Füßen wirft. Erschreckt richte ich ihn auf, setze mich auf einen Stein und suche den heftig Weinenden zu beruhigen. Mit vieler Mühe gelingt es mir nach und nach. Er sieht mich an, lächelt, schlägt seine kleinen Arme um meinen Hals, wird immer stiller und schläft endlich ein. Während er auf meinem Schooße ruht, betrachte ich ihn näher. Sein ganzes Wesen macht den tiefsten Eindruck auf mich. Der Kleine schlief so sorglos, daß ich ihn um Alles in der Welt nicht hätte wecken mögen. Und doch brach die Nacht herein. Mit großer Vorsicht erhebe ich mich und trage ihn nach Hause. Dort bereite ich ihm ein Lager neben dem meinen und begebe mich zur Ruhe. Ich schlafe mit dem Gedanken ein, daß sich die Angehörigen des Knaben wohl am andern Morgen einfinden werden. Aber es kam Niemand, weder am nächsten Tage noch an einem der folgenden. Eine Entdeckung, die ich gleich nach dem Erwachen mache, erschreckt mich, der Knabe ist stumm. Darnach ist es unmöglich, auch nur die geringste Erkundigung von ihm einzuziehen. Zu mir fühlt sich der Knabe lebhaft hingezogen und auch an die Verwandte, die meinen Haushalt führt, schließt er sich gern an. Sie widmet ihm mütterliche Theilnahme. Niemand kümmert sich um unsern Findling; er bleibt uns völlig fremd, und nur weil wir seine Wäsche mit dem Namen Alexis gezeichnet finden, nennen wir ihn so.

„Einige Wochen nach diesem Ereigniß,“ fuhr der Geistliche fort, „bereist der Kreisarzt diese Gegend. Mit gleicher Theilnahme wie Alle wendet er sich dem Knaben zu. Er beschäftigt sich viel mit ihm und sagt beim Scheiden zu mir: der Knabe ist nicht stumm geboren; er ist es durch irgend ein schreckliches Ereigniß geworden. Sein Gemüth ist ungemein weich, doch habe ich auch bemerkt, daß tiefe Leidenschaften in ihm schlummern. Es scheint der Mühe werth, die schlummernden Seelenkräfte zu wecken. Sie, lieber Pastor, haben dazu die Muße und den Beruf. Ich ahne ein Geheimniß, was dieser stumme Knabe uns nicht verrathen kann. Unterrichten Sie ihn, und es wird ein Tag kommen, wo er das, was er Ihnen jetzt nicht sagen kann, niederschreiben wird.

„Diese Worte,“ sagte der Geistliche, „mit denen der Arzt von mir Abschied nahm, sind nicht auf einen unfruchtbaren Boden gefallen. Mit Eifer lege ich Hand an das Werk. Die ersten Erfolge sind glücklich. Meine Lust an dem Unterrichte steigt. Ich ertheile ihn nicht, um ein Geheimniß zu erfahren, sondern aus Liebe zur Sache. Rasch entwickeln sich die geistigen Fähigkeiten meines Zöglings. Schon fängt er an, mir seine Gedanken und Empfindungen mitzutheilen. Aber im Laufe der Zeit, wo jeder Tag neue Eindrücke bringt, tritt die Erinnerung an seine Vergangenheit immer weiter in ihm zurück. Nur einzelne Bilder vermag er zu erhaschen. Er schildert mir ein dunkles Haus, woran ein Garten stößt, den hohe Mauern umgeben. Ein alter Mann, der selten, sprach, bediente ihn. Von Zeit zu Zeit erscheint eine Dame in dem Garten, ohne daß er bemerkt, woher sie kommt und wohin sie geht. Sie liebkost ihn stets auf das Zärtlichste und füllt seine Hände mit kleinen Geschenken. Eines Morgens tritt der alte Diener an sein Bett, heißt ihn aufstehen und sagt ihm, daß die Dame heute wiederkommen und ihn mit sich nehmen werde. Nun sind ihm seine Erinnerungen untreu. Er weiß nur, daß er neben der Dame in einem Wagen gesessen. Auch ein Herr wäre darin gewesen, der ihn öfters umarmt und seinen lieben, lieben Alexis genannt habe. Alles dies, mein werther Herr, erfahre ich bruchstückweise in verschiedenen Zeiträumen, wie es in dem Geist des Knaben aufdämmert. Zuletzt schreibt er wieder, daß der Wägen plötzlich still hält und Männer mit schwarzen Gesichtern denselben umringen. Die Dame sinkt ohnmächtig hin. Der Herr zieht seinen Säbel und stellt sich zur Wehre, bis er blutend niederstürzt. Aber Alexis sieht nichts mehr. Einer der schwarzen Kerle streckt die Hand nach ihm aus und droht, ihn zu erwürgen. Er weiß auch nicht, wie er dem Wüthenden entkommen ist; er sieht sich nur eine Strecke vom Wagen seitwärts stehen, wie man in denselben den Herrn und die Dame hineinträgt und davon fährt. Er will schreien, aber er vermag es nicht. Das Entsetzen hat ihm die Sprache geraubt, und er ist nun blindlings fortgelaufen, bis er mich gefunden. Weiteres war nicht zu erfahren.

„Wie Sie leicht denken können,“ schloß der Pfarrer, „unterließ ich seiner Zeit nicht, den Behörden von dem Findling, der sich bei mir aufhielt, Nachricht zu geben, und es sind deshalb Nachforschungen angestellt. Jetzt erneuere ich meine Bemühungen, indem ich Alles mittheile, was ich von Alexis erfahren habe. Aber auch jetzt bleibt jede Mühe eine vergebliche. So habe ich mich allmälig daran gewöhnt, Alexis als meinen Sohn zu betrachten, und schon mache ich Pläne für seine Zukunft, als mich plötzlich der härteste Schlag trifft. Eines Nachmittags tritt er eine seiner gewohnten Wanderungen an, von denen er sonst stets nach einigen Stunden wiederkehrt. An diesem Abend kommt er nicht heim. Nach einer ängstlich durchwachten Nacht wende ich mich an die Bewohner des Dorfes. Der Gedanke, daß Alexis irgendwo verunglückte, ist am natürlichsten. Der Knabe war so beliebt bei Alt und Jung, daß Alle sich unaufgefordert aufmachen, ihn zu suchen. Keine Mühe, keine Anstrengung wird gespart. Die Männer setzen sich umsonst der augenscheinlichsten Gefahr aus. An dem Rande eines jähen Abgrundes hängt sein Hut an einem Strauche, unfern davon eine lederne Reisetasche, wie er sie zu tragen pflegte. Der Inhalt derselben, Bücher und einiges Obst, liegt zerstreut umher; von dem Leichnam aber findet sich keine Spur. Nach dreien Tagen ununterbrochener Arbeit muß ich selbst bekennen, daß jedes weitere Bemühen vergeblich ist, und ich lebe nun in der steten Ungewißheit, ob Alexis verunglückt, oder von seinen frühern Verfolgern entdeckt und – Gott weiß, wohin entführt ist.“

So lauteten die Mittheilungen des Geistlichen, wie ich sie von meinem Freunde als eine Erklärung der Skizze erhielt, die er mir aus dem Gebirge mitbrachte. Als er seine Erzählung endete, sagte er zu mir:

„Ich glaube kaum, daß wir uns vor meiner Weiterreise

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