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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

wie dicke Thränen, Perlen gleich, über des Kindes bleiche Wangen rollen, und bemerkt, daß sein Anzug, zwar reinlich, aber höchst dürftig ist. Sie erzählt der Wirthin, wie ihre arme Mutter, monatelang krank, die Miethe ihres Zimmers nicht habe zahlen können, und wie nun der hartherzige Vermiether sie aus dem Hause getrieben habe, aber all’ ihre Habseligkeiten behalte, um sich zu entschädigen. Das Kind erzählte sein Leid so rührend, so wahr, so ergreifend, daß in Beranger’s Auge eine Thräne trat. Er legte still sein Zeitungsblatt aus der Hand, leerte seine Tasse, legte seine Pfeife sorgfältig in das Etui, nahm seinen Hut und entfernte sich unbemerkt. Die Wirthin beschenkte das Kind und versprach selbst nachzusehen, und das Kind entfernte sich langsam, die Thränen trocknend, die es der Welt nicht zeigen mochte. Beranger erwartete es unten auf der Straße, folgte ihm von Ferne und trat sogleich hinter ihm zu der armen Wittwe, die händeringend in dem engen Stübchen des Portiers stand, umgeben von ihren weinenden Kindern.

Mit einer herzgewinnenden Freundlichkeit tritt er zu der Trostlosen, beruhigt sie und bittet den Portier, ihr den Aufenthalt in seinem Stübchen nur so lange zu gewähren, bis er wiederkommen würde. Als ihm dies zugesagt war, entfernte er sich eilig. Ein Lohnkutscher brachte ihn zu seiner Wohnung. Nach kurzem Aufenthalte fuhr er weiter, und hielt an einem großen Gebäude an, in dem viele Arbeiterfamilien in der Miethe wohnten, wie sie in Paris so häufig gefunden werden. Es hielt ihm nicht schwer, eine Wohnung zu miethen, welche gleich bezogen werden konnte, und als dies Geschäft beendigt war, fuhr er wieder nach der Straße zurück, wo angstvollen Herzens die Unglücklichen seiner Rückkehr harrten. Wie freudig hoben sich die Herzen als er lächelnden Antlitzes in das Stübchen des Portiers trat und ihnen verkündete, er werde sie bald wieder in eine bequeme Wohnung geleiten. Ohne sich aber eine Erholung zu gönnen, eilte er zur Wohnung des Hausvermiethers, die eine Stiege höher lag. Hier zahlte er den dreimonatlichen Miethbetrag der armen Wittwe, und nöthigte dadurch den hartherzigen Menschen, die geringfügigen Besitzthümer und Mobilien der armen Wittwe herauszugeben. Sie wurden aufgeladen und nach der nicht sehr entfernten Wohnung gebracht. Dem Lastwagen folgte der Fiaker, in dem Beranger mit seinen Schützlingen saß. Die Einrichtung war bald vollendet. Beranger setzte sich nun ganz gemüthlich zu der Familie und ließ sich deren Geschichte erzählen und ihre Verhältnisse auseinandersetzen. Da vernahm er denn, daß ihr Gatte und Vater ein nahmhafter Kupferstecher gewesen war, seine Familie zwar kümmerlich, aber mit unermüdetem Fleiße ernährt hatte, leider aber ihr früh entrissen worden war. Die Mutter hatte dann durch Nähen und Sticken so viel verdient, daß sie mit den Kindern nicht Noth litt, bis ihre Erkrankung aber auch diese Hülfsquelle zuletzt verstopft hatte, und nun denn der breite Strom maßlosen Elendes über sie hereinbrach, dessen Gewalt die Unterstützungen der mitleidigen Wirthin des Kaffeehauses allein brach, so viel sie vermochte.

Beranger blickte da in ein Familienleben voll Noth und Entbehrung, voll aufopfernder Liebe und Treue; er blickte in gute Herzen, die so offen vor ihm lagen und die ihm die Gewähr leisteten, seine Wohlthaten seien nicht weggeworfen, seine Fürsorge gälte guten Menschen. Nun lag seinem Herzen aber auch ein weites Feld des Wirkens offen. Das älteste der Kinder war ein Knabe von vierzehn Jahren, für den eine Laufbahn zu eröffnen war, denn damit war’s hohe Zeit. Beranger’s herzgewinnendes, zutrauliches Wesen führte ihn schnell zu seinem Ziele. Er vernahm des Knaben Wünsche ohne Hehl. Begabt mit besonderm Talente, wünschte er des Vaters Kunst zu erlernen; ja, er hatte schon mit den Werkzeugen desselben Versuche gemacht, die er Beranger zeigte, und die in diesem die Ueberzeugung begründeten, der Beruf des Knaben zur Kunst sei entschieden. Er sann nach und sagte dann, er wolle sehen, ob nicht Etwas für den hoffnungsvollen Knaben zu thun sei. Der Mutter drückte er noch eine Rolle von hundert Francs in die Hand und eilte dann, unter den Segnungen der Glücklichen hinweg, doch nicht ohne vorher eine dreimonatliche Miethe im Voraus dem Hauseigenthümer zu bezahlen.

Jeder andere Gedanke lag dem edlen Dichter jetzt fern. Seine ganze Seele erfüllte die Lage der unglücklichen Familie eines geachteten Künstlers. Darum begab er sich zu einem ihm nahebefreundeten Maler, mit dem er in Berathung trat über den für den Knaben zu suchenden Meister. Der Maler wußte Rath und schon am andern Morgen konnte er den glücklichen Knaben in das Atelier eines tüchtigen Kupferstechers bringen, dem er für das Lehrgeld durch seinen Freund, den Maler, Bürgschaft leistete, ohne daß er seinen Namen erfahren hätte.

Vergebens bemühte sich indessen die Wittwe, den Namen des Wohlthäters zu erforschen. Wie er unerwartet wie ein Meteor aufgetaucht war, so verschwand er auch, ohne daß sie ihn wiedersah. Dennoch empfing sie Beweise genug, welche dafür sprachen, daß er ihrer gedenke und fortwährend ihre Lage mit demselben wohlwollenden Herzen überwache, wie es am ersten Tage geschehen war.

Die Wirthin des Cafs’s war an jenem Mittage so von der Noth der Familie ergriffen, daß sie die Entfernung Beranger’s gar nicht wahrgenommen, ja nicht einmal die entfernteste Ahnung davon hatte, wie mächtig die Schilderung des Kindes ihn ergriffen. Als das Kind mit seinen Gaben weggegangen war, erzählte sie mit all’ der Volubililät der Zunge einer lebhaften Pariserin ihren Gästen die Härte des Vermiethers und das traurige Geschick der unglücklichen Familie. Die Gemüther erhitzten sich, man sprach über das Loos der zahlreichen Familien solcher Künstler, die, trotz ihrer Leistungen, es doch nicht dazu bringen könnten, für ihre Familie nachhaltig zu sorgen; über die Herzlosigkeit wuchernder Vermiether und über alle diese Verhältnisse, welche der wunde, nie heilende Fleck großer Städte sind; aber wie auch das Alles besprochen, mit zahlreichen Beispielen belegt wurde – es blieb bei dem Besprechen und keine Hand regte sich, den Geldbeutel zu ziehen für die Unglücklichen, deren Loos ihnen so nahe gelegt war.

Die Wirthin, einst eine Jugendgespielin der unglücklichen Wittwe, hatte allein ein Herz für sie. Noch an dem Abende eilte sie selbst hin, Trost zu bringen. Wie erstaunte sie aber als sie von dem Portier vernahm, was vorgefallen war. Am meisten war sie davon betroffen, daß das Kind den Wohlthäter mitgebracht habe. Sie sann nach, wer Zeuge jenes Auftrittes gewesen, aber Keiner der Gäste, die sie kannte, glichen dem Bilde, welches freilich nur in allgemeinen und sehr flüchtigen Zügen der alte Portier entwerfen konnte, und an Beranger dachte ihre Seele nicht, ja sie erinnerte sich nicht einmal seiner Anwesenheit, weil sie zu sehr bewegt und erregt gewesen war. Sie fand ihn eben nicht heraus. Höchst unangenehm aber war es ihr, daß sie auch nicht einmal herausbringen konnte, wohin der Herr ihre Freundin und ihre Kinder gebracht, und daß sie abwarten mußte, bis sie von diesen selbst Aufschluß erhalten würde. Diese Ungewißheit, diese unbefriedigte Neugierde, dieses Unbekanntbleiben mit dem Loose der unglücklichen Jugendfreundin lasteten schwer auf der Seele der beweglichen Pariserin, und sie hätte Thränen darüber vergießen können, daß sie einige Tage vielleicht warten mußte, bis sich alle die Räthsel lös’ten.

Solche schwere Probe war ihr jedoch nicht beschieden. Schon zeitig am andern Morgen erschien das liebliche Kind wieder bei ihr. Sein Antlitz strahlte von Freude, als es zu der theuern Freundin ihrer Mutter eilte.

„Kommst Du endlich?“ rief die Wirthin dem Kinde entgegen und vergaß, daß der Wechsel des Glückes der Familie erst wenige Stunden hinter sich hatte. „Wie heißt Euer Wohlthäter? Wer ist es? Wie geht es Euch? Wo wohnt Ihr denn jetzt?“ Diese Fragen sprudelten über die Lippe der lebhaften Frau in einer Hast und Eile, daß das Kind ganz verblüfft war, und nicht wußte, auf welche derselben es zuerst antworten sollte.

Die Wirthin sah endlich wohl ein, sie müsse dem Kinde ruhiger zuhören oder ihre Fragen langsamer stellen. So fragte sie denn zuerst nach der Person des Mannes, der so aufopfernd für sie und ihre Angehörigen gesorgt.

Das Kind erröthete: „Ach,“ sagte es, „wir kennen ihn nicht. Die Mutter hat vergeblich nach seinem Namen gefragt. Lächelnd hat er geantwortet: der Name thue ja gar nichts zur Sache, ja, wenn sie nach seinem Namen forsche, so werde sie ihn zwingen, sich zurückzuziehen. Sie sehen wohl,“ sagte die Kleine, „da waren uns die Lippen geschlossen.“

„Das ist sehr fatal!“ rief die Wirthin ärgerlich aus und stampfte mit dem kleinen Fuße auf den Boden. „Muß ich da völlig im Dunkeln bleiben, wo mir so viel darauf ankäme, ihn zu

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