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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

durch ein Labyrinth der blühendsten Wildniß, die noch von keiner Civilisation berührt war, und dann in eine der originellen Uranfänge von Städten, die in Amerika unter dem Namen Squatter-Cities, Ansiedler-Städte, eine so merkwürdige Rolle spielen. Eine Squatter-City hat durchaus keine Aehnlichkeit mit andern Städten, sie ist nur der Embryo, die Chrysolide derselben: eine Stadt ohne Häuser, eine Stadt ohne Straßen, eine Stadt, wo noch nichts steht, eine Stelle, wo Wanderer und Pioniere Rasttag hielten und sagten: hier laßt uns Hütten bauen, hier laßt uns den Grundstein zu einer Stadt legen, die in 50 Jahren eine halbe Million Einwohner haben mag. Die Squatter-City, in welche unser Freund mit den Kansas-Verein-Bevollmächtigten kam, war schon getauft worden. Sie heißt Leavenworth und soll die künftige Hauptstadt von Kansas werden. Das erste Gebäude der Stadt war eine nackte Dampfmaschine, auf dem Grase unter freiem Himmel sich zunächst ihre eigenen Kleider aus dem Urwalde heraussägend. „Eine neugeborne, nackte Dampfmaschine“, sagt unser Freund, „aber schon in Arbeit, um sich Kleider zu sägen und sich unter Dach und Fach zu bringen.“ Die nächsten andern Hauptsehenswürdigkeiten der Stadt bestanden aus vier Zelten, einem Fasse Branntwein oder Wasser unter einem Baume, einem Feuer mit einem Kessel an einer Stange darüber, und einer Druckerei im Freien mit einem Setzer, der eben damit beschäftigt war, die erste Nummer einer Zeitung zu vollenden. Sein Setzkasten ruhte auf vier Pfählen in die Erde getrieben, seine Druckerei stand in freier Luft ohne irgend eine Spur von vier Pfählen mit Wand, aber das Dach war desto prächtiger. Es bestand aus einer dichten, weiten, schattigen Baumkrone. – Als wir zurückkehrten, sah ich mich zuerst nach der Druckerei und dem Redaktionslokal der neuen Kansas-Hauptstadt-Zeitung um, fand aber blos einen Zettel am Baume, welcher meldete, daß Druckerei und Redaktion der Zeitung von „unter dem großen Ulmenbaume“ nach der Ecke von Broadway (des breiten Weges) verlegt worden sei. Broadway, Name der stolzesten, breitesten Straße von New-York, war in Leavenworth viel breiter, als irgend eine Straße der Welt, breiter und länger, als irgend eine Straße oder ein Stadttheil von London. Sie hatte keinen Anfang und kein Ende, die ganze Straße zeichnete sich dadurch aus, daß nirgend eine Spur von einem Hause zu entdecken war. Man dachte nur, daß „breiter Weg“ der beste Name für die Stelle sei, wo die wenigsten Bäume und Unebenheiten den Verkehr der Squatters störten und wo später vielleicht sich Hunderte stolzer Paläste in granitnen und marmornen Kolossen und in flimmernden Doppelreihen ansehen. Auch in seiner neuen Wohnung lebte der Redakteur, Eigenthümer, Setzer, Drucker und einzige „Mitarbeiter“ der Kansas-Staatszeitung noch sehr simpel und gemüthlich. Die ganzen Lokalitäten bestanden aus einem Hause ohne alle Wände, aber wieder einem desto majestätischeren Dache, einer Urwaldsbaumkrone. Sprechzimmer, Schlafstelle u. s. w. des Redakteurs war unter dem Setzkasten mit vier Pfählen, aber ohne vier Wände.

Merkwürdig, diese modernen Uranfänge der Civilisation! Früher bedurfte es Jahrtausende langer Entwickelungen, ehe man zur Presse kam. Jetzt fängt sie gleich mit dem Falle des ersten Baumes, mit der steigenden Rauchsäule des ersten Kochfeuers zu arbeiten an, wie der Dampf, dieser Dämon der riesigsten, modernsten Kultur-Revolution. So steigen in Amerika in wenigen Wochen, als früher Jahrzehende dazu gehörten, Städte aus dem Urwalde empor mit Dampfmaschinen, Pressen, Freiheiten, von denen die Bewohner alter deutscher Städte heimlich als von einer fernen Zukunft träumen, als den ersten Begründern dieser neuen Siedelungen.

Gleich auf den ersten Wanderungen durch Kansas kamen unsere Reisenden in Gemälde und Landschaftsbilder hinein, neu und abwechselnd in jedem Momente und schon in jeder Wendung, wie wir’s früher nicht für möglich gehalten. Niemand kann sich eine Vorstellung von den Kansas-Prairieen machen, der etwa die von Indiana oder Illinois gesehen, wie auch Leute aus Iowa behaupten, daß keine Art von Prairieen in der Welt zu einer Vorstellung der ihres Landes führen könne. Es fehlt die Majestät der Gebirge und großer Flüsse und Seen. Es fehlt an Farbeneffecten.

Keine Spur von menschlicher Thätigkeit und Ansiedelung, als ein nur schwer zu entdeckendes Indianerdorf, aber Alles trug das Gepräge der höchsten Landschaftskultur oder sah aus, als wäre die ausgesuchteste Landschaft eines Malers in Fleisch und Blut umgewandelt worden. Die grünen Wiesen und Weideplätze dehnten sich über die äußersten Grenzen der schärfsten Sehweite aus. Aus dieser saftigen, neue Lebenskraft athmenden Unendlichkeit erhoben sich in malerischer Unordnung und Gruppirung Gartenanlagen und Haine und Parks, deren unendlicher Reiz uns unbewußt, wohl darin bestand, daß sie dem Charakter der unberührten Schöpfung der Natur das Gepräge der höchsten Kultur von Lust-, Küchen- und Obstgärten, von aristokratischen Parks und Lusthainen aufdrückten und so zwei entgegengesetzte landschaftliche Stimmungen vereinigten, nicht minder in den graziösen Linien und Schönheitswellen der Hügel und Höhen, die sich zu beiden Seiten in’s Unendliche hin schlängeln, hier kühn und muthwillig, dort sanft und fließend, aber stets in wunderbarer Harmonie zu der üppigen Ruhe und Heiterkeit des Thales.

Der allgemeine Charakter der Oberfläche von Kansas ist Hochprairie, welliges, endloses Tafelland mit Hauptneigungen in südlicher und südöstlicher Richtung, im Einzelnen aus einer Fülle von Gestaltungen und Formen, die vereinigt und in Harmonie gebracht durch rundliche, fließende Grenzlinien, ihren ewigen, frischen Reiz in diesem Geheimniß der größten Einfachheit der Grundformen bei unendlichem Reichthume der Variationen dieses einfachen Thema’s zugleich verhüllen und entfalten. Kegelförmige Höhen steigen manchmal bis etwa hundert Fuß, wie vom Mathematiker gezeichnet, über das untere blühende Wellensystem empor. Einige davon sieht man am klaren Horizonte über 100 englische Meilen weit. Sie bilden ruhige Anhaltpunkte für das sich weidende Auge. Daneben bieten hohe Flußufer mit oft seltsam steil emporsteigenden Wänden unermeßlichen Spielraum für die Phantasie, der diese Wände und Wälle bald wie riesige Festungswerke und Thürme mit Parapeten und Armeen, bald wie das Aufschimmern ferner, volkreicher Städte erscheinen läßt. Zuweilen senkt sich die Prairie sanft aus dem Flusse hinunter in Abhängen von mehrmeiliger Breite, auf denen sich der zukunftoffene Blick unwillkürlich Reihen der schönsten, blühendsten Meiereien, Dörfer und Städte ausmalt. Sie sind dazu wie geschaffen. Wie oft habe ich gedacht, sie seien schon da. Sah ich doch die Gärten, Wiesen und Weiden derselben. O es ist eine seltsame, träumerische, mystische Erinnerung! Wie heimlich und heimathlich lächelten uns oft endlose Ausdehnungen an. Und wie wehmüthig und unheimlich überrieselte es mich, wenn wir Tage lang, Wochen lang in allen diesen üppigen, gemüthlichen Thälern und hinter diesen schönen Hügelwellen niemals einem lebenden Wesen begegneten und ich mich unwillkürlich in das künftige Jahrhundert versetzte, in welchem hier vielleicht Millionen freudiger, rühriger, wohlhabender Menschen aufwimmeln; wie ich mich niemals des Gedankens erwehren konnte, daß hier einst ein zahlreiches, gebildetes Menschengeschlecht gelebt und diese schöne Natur cultivirt und genossen haben müsse.

Am „großen Blauen“, wie die Indianer einen Hauptnebenfluß des Kansasstromes nennen, zwischen Lusthainen und Grotten auf beiden Seiten, unter dem süßen Gezwitscher der Vögel, zwischen denen Eichhörnchen lustig umherspringen und Nüsse fallen lassen, dicht neben Wachteln und Prairiehühnern, die aus Buschwerk hervorlaufend neugierig und furchtlos die niegesehene Menschengestalt anstaunen, war es mir oft trotz unzähliger Täuschungen, als müßt’ ich plötzlich zwischen Gärten und Kornfelder treten und freundliche Villen und Dörfer finden mit spielenden Kindern vor den Thüren und Rauchwolken aus den Schornsteinen und einem Zifferblatte am Kirchthurme und Glockengeläute zu abendlicher Ruhe. Aber Leute und Häuser und Tempel und Kornfelder sind verschwunden. Durch die üppige, vereinsamte Natur schweifen nur noch einzelne dünne Stämme eines untergegangenen hochkultivirten Geschlechts, das einst diese Bergkegel und Festungswälle baute, furchtbar den Feinden und streng in häuslichen Sitten und Gewohnheiten, wie man aus denen der noch lebenden Indianer schließen muß. Ah, was für Reiter und Ritter sind sie jetzt noch.

Der Kansas-Indianer reitet in einem Zirkel um seinen Feind, nach Außen auf seinem Pferde liegend, mit dem linken Fuße sich am Rücken desselben festhaltend, mit dem linken Arme des Pferdes Hals umspannend und den Bogen haltend. So im Zirkel reitend und geschützt vor dem Feinde

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