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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

in die Stube, an deren aus runden in Blei gefaßten Glasscheiben bestehenden Fenstern die mit mehreren Schraubstöcken garnirte Werkbank hinlief. Ueber derselben, an den Fenstern in der Stube und außen am Hause hingen die kleinen hölzernen Gitterbauer mit den Finken, Rothkehlchen, Zeischen, Drosseln, Meisen, Amseln, Plattenmönchen und Nachtigallen, der Dußpfeiser dem Meister zunächst, denn das war der Liebling, und Mancher hätte lieber Frau und Kind gemißt, als den Vogel. Man erzählt Beispiele, daß für einen gutgelernten Schläger eine Kalbe hingegeben wurde. An die Schmiedeesse stieß in der Regel der Kuhstall; denn eine oder zwei gute Kühe hatten die Meisten. In der Nähe war auch der kleine Hühnerstall, wo die Kampfhähne bestens verwahrt und gepflegt wurden.

Vor den Fenstern des Hauses waren die Blumenbrete befestigt und mit Scherbengewächsen dicht besetzt. An das Haus grenzte das freundliche Blumengärtchen. Hier und dort war der prächtige Nelken- und Aurikelflor zu schauen. Die Narzisse, die Glokkenblume, die Kaiserkrone, die Tulpe, die weiße, die Schwert- und die Feuerlilie, das Gartenhähnchen (Eberraute), Pfeffer- und Krausemünze waren die vorzüglichsten Ziergewächse ihrer Gärten; in den Töpfen hielten sie das Aschenkraut, das starkduftende Katzenkraut, den Rosmarin, den Lack, die Winterlevkoie. Ihre Leidenschaft für ausgezeichnete Nelken erinnert an die Tulpenliebhaberei der Holländer. Kenner fanden bei einfachen Messerschmieden in der Ruhl so seltne, kostbare und ausgezeichnete Nelkenblumen, wie fast in der ganzen Welt nicht weiter. Auch die Nelken hatten ihre Nomenklatur, z. B. die rothe, blaue, fleischfarbne Flammös; die weiße, rothe doppelte Henne; die Prinzessin Amalie; der Prinz Friedrich; der alte Fritz mit der Schnupftabacksnase; der alte Dessauer; die Krone von Harlem; die Perle von Holland; die Perle von Eisenach; der Prinz Dahlberg; Hektor; der Doktor Storch etc. Für ein Dutzend Nelkenschleißen (Absenker) zahlten jene einfachen Menschen, die keinen Luxus kannten, je nach ihrer Güte einen bis drei Friedrichsd’or.

Wir haben noch von ihren Kampfhähnen und deren Wettkämpfen zu sprechen. Die Hähne heißen mit ihren technischen Namen: Beißer, Hitzige, Kreischer, Giller, Sperber, Latscher, Schwarzköpfe, Rothkämme, Weißkuppen, Heißsporn, Gescheckte, Gesprenkelte etc. Vor dem Kampf wurden sie mit in Branntwein geweichten Gerstenkörnern gefüttert. Die Kämpfe fanden gewöhnlich Sonnabend Nachmittags an bestimmten Plätzen unter großer Zuschauermenge statt. Alle Leidenschaften wurden rege und hohe Wetten gemacht, ganz wie in England. In der Ruhl hat nur ein Hogarth gefehlt, der uns die originellen Gestalten mit den leidenschaftlichen Zügen und den Hahnenkampf verewigt hätte. Gewöhnlich blieb ein Hahn todt auf dem Platze, aber der Hahnenkampf zog auch nicht selten einen Menschenkampf nach sich.

Zum Feierabend besuchten die Messerschmiede einander, um sich am Finkenschlag zu ergötzen, „die Finken zu verhören“, nach ihrem Ausdruck, und die Nelken und Aurikel zu beschauen, oder sie machten (vorzüglich Sonntags) ihre Waldgänge, wo denn auch die freien Finken „verhört“ wurden, oder sie versammelten sich an den Spielplätzen im Ort zu Hahnenkampf und Spiel. Auch ihre Spiele waren so eingerichtet, daß eine große Menge Menschen daran Theil nehmen konnte. An Sonn- und Festtagen kam Jung und Alt zusammen, um sich mit Spielen zu unterhalten. Mit dem Flitschbogen. und dem Blasrohre wurde nach dem (hölzernen gemalten) Vogel, nach Stern- und Ringelscheibe geschossen. Man hatte mehre sehr complicirte Ballspiele, wobei das Verfehlen des Balls beim Schlagen und Fangen mit kurzen Stäben in kleine runde Löcher, welche in den Boden gedreht waren, bemerkt wurde; jeder Mitspieler hatte sein Loch. Das Kegelspiel war ebenfalls verschiedener Art, das älteste und beliebteste mit Kugeln mit Grifflöchern, die im Bogenwurf in die Kegel geschleudert wurden. Ein andres beliebtes Spiel hieß: „nach der Geiß werfen.“ Aus Steinen wurde eine kleine Pyramide aufgebaut und nach dem größern Kuppenstein ein kurzer Knittel geschleudert. Höchst mannigfach und zum Theil sehr complicirt waren die Spiele mit „Stennern“, den kleinen steinernen und thönernen Kugeln (Schustern, Marbeln); man bezeichnete sie mit den Kunstausdrücken schießen („schiß“), fangen („fah“), schacken („schack“), picken („peck“). Es gehörte jahrelange Uebung dazu, um sie und ihre zahlreichen Regeln alle zu kennen und gut zu spielen. Mit bewundernswerther Fertigkeit schnippten (schossen) die Spieler mit den Fingern den Stenner nach andern Stennern in einem Kreise, oder in einer Linie, oder nach einem Pfählchen, auf welchem Geld lag. Wurde das Hölzchen getroffen, so waren die Stücken der herabgefallenen Münzen, welche das Wappen nach oben kehrten, dem Treffer. Es gab da eine Anzahl technischer Ausdrücke, die meistens unerklärlich sind. Oder man „pickte“ die Stenner aus einem glatt gedrehten runden Loche durch Werfen aus kleiner Entfernung, mit einem größern Stenner heraus. Beim „Schacken“ wurde eine Hand voll Stenner nach dem Loche geworfen, und die darin Liegenbleibenden bestimmten Gewinn und Verlust. Beim „Fahen“ mußte der emporgeworfene auf eine Steinplatte zurückgefallene und von da emporgeschnellte Stenner gefangen und in der Zwischenzeit die auf der Platte liegenden „Fahstein’“ weggenommen werden. Dieses war vorzüglich ein Mädchenspiel. An den großen und verwickelten Stennerschießspielen nahm oft eine beträchtliche Anzahl Männer Theil, und ein einziges Spiel dauerte mehre Stunden, einen ganzen, ja wohl mehre Tage.

Nächst diesen uralten Spielen, die hier nur kurz angedeutet und bei weitem nicht alle genannt werden konnten, sind die eigenthümlichen Tänze, die Volksfeste und ihre leidenschaftliche Vorliebe für Musik und Gesang und das Läuten der Glocken zu erwähnen. Die Tänze waren sehr charakteristisch und hatten nichts gemein mit den heutigen. Theils erinnerten sie an die Menuet, theils an die Masurka und die Sabotiere, doch hielten sie ihren ursprünglich deutschen Charakter fest und ähnelten wohl zumeist der Allemande. Einer war ausschließlich Eigenthum der Ruhl und hieß deshalb auch „der rühler Springer“. Die Musik dazu hat sich erhalten, den Tanz selbst kann Niemand mehr ausführen. Andre dieser Tänze hießen „der Birnschüttler“, „der Schlahmöller“ (Schlagmüller d. i. Oelmüller), „die Siebensprünge“. Da man aber nur die mündliche Ueberlieferung davon hat, so kann man sich keine rechte Vorstellung mehr davon machen. So sind auch die alten Volksgesänge verschwunden und nur kleine Bruchstücke daraus haben sich erhalten. Sie deuten auf Gebräuche, die aus dem Heidenthume stammend den Wechsel der Jahreszeiten u. dgl. behandelten. Der Frühling wurde z. B. alljährlich in Person mit Gesang eingeführt; ein Knabe wurde ganz in frisches Buchenreis eingebunden, so daß die Wipfel über dem Kopfe eine Krone bildeten und das Bürschchen einem wandelnden Busche glich. Er hieß „das Laubmännchen“ und bedeutete ursprünglich den wiedergebornen und mit Jubelgesängen eingeholten sonnigen Frühlingsgott Balder.

Die rühler Musikanten waren berühmt, und ihre Kirchenmusiken zogen Fremde an. Johann Sebastian Bach, der große Tonschöpfer, 1685 in Eisenach geboren, ging in seiner Jugend oft in die Ruhl, um diese Musikanten zu hören, und hat Zeit seines Lebens den musikalischen Anregungen, die er unter dem muntern Völkchen im Ruhlathale empfing, ein dankbares Andenken bewahrt.

In der Auszählung der rühler Liebhabereien kommen wir endlich zum Läuten der Kirchenglocken, dem sie sich mit einer Leidenschaftlichkeit und Ausdauer hingaben, die in Erstaunen setzt. Die Glocken hängen nicht auf den Thürmen der beiden Kirchen, sondern in eignen Glockenhäusern, eine Strecke über jenen an den Bergabhängen. Jedes Glockenhaus hat drei Glocken, die große, die mittlere, die kleine; alle sechs sind nach der Tonscala gestimmt, so daß ihr Geläute harmonisch ineinander hallt. Nie wird ein Ohr schönere Glockenklänge vernehmen als die, welche zu Sonn- und Festtagen das Ruhlathal durchzogen; Niemand verstand aber auch besser zu läuten als die rühler Messerschmiede. Sie hatten das Läuten zu einer Kunst ausgebildet, die sie mit derselben unruhigen Lust betrieben, wie den Vogelfang, Tauben- und Blumenzucht, Musik, Tanz und Spiel. Und nirgend wurde mehr geläutet als in der Ruhl. Jeden Tag zu Mittag und Feierabend ertönte die kleine Glocke; zu Kindtaufen, Trauungen und Begräbnissen erschallte Geläute, und Sonntags waren die Glockenhäuser voller kräftiger Menschen, die sich mit Begierde beim Läuten ablösten. Keine Stunde in der Ruhl wurde mit größerm Vergnügen vernommen, als die vom Ableben einer fürstlichen Person aus den resp. Familien der Landesherrschaften oder der freiherrl. von ütterodt’schen Familie; denn da durfte drei bis sechs Wochen lang jeden Tag ein paar Stunden das volle Trauergeläute erschallen, und die Läuter konnten sich ein Genüge thun.

In die Kirche gingen die Rühler wohl, aber doch nur aus

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