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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

und unmittelbar mit dieser Natur eins, wie der Hirsch und der Vogel, der Baum und die Quelle. Ihr Glück, hier zu leben und diese Berge zu durchstreifen, war kein Gefühl in ihnen, das sie mit Seelenwollust oder Raffinerie durchzukosten vermocht hätten; es war eine Nothwendigkeit, eine Lebensbedingung, wie Essen und Schlafen, und je unfähiger sie waren, es zu objectiviren und Reflexionen darüber anzustellen, desto rücksichtsloser gaben sie sich ihm hin und gingen ganz in ihm auf. Das zeigte sich recht an dem Umstande, daß sie gar nicht außer ihren Bergen zu leben vermochten. Sie wurden krank und elend, wenn sie sich draußen in der Welt länger aufhielten, als einige Wochen, die ihr Kleinhandel erforderte, und lebten wieder auf, wenn sie in ihre Bergluft zurückkehrten. Das ganze Jahr über, von ihrer Kindheit an bis in’s hohe Alter durchstreiften sie diese Wälder bergauf und bergab, und lebten höchst genügsam dabei. Sie kannten im stundenweiten Umkreise jeden Grund, jede Quelle, jeden Fels, und die reizenden Sagen, die Reste einer großartigen Naturreligion, die an diesen Oertlichkeiten haften geblieben und mit der Seele des Volkes gleichsam verwachsen waren, bewahrten sie treu als geistiges Erbtheil der Väter, das sie ihren Kindern überlieferten. Der Aberglaube, dieser wunderbare Centimane, das uralte Kind des Heidenthums, saß hier als mächtiger Beherrscher der Geister unbeirrt auf seinem tausendjährigen Throne.

Was glaubten diese Menschen nicht Alles! Aber das war doch eigentlich gar kein Glauben; denn der Glaube bedingt doch seinen Gegensatz, den Zweifel, wie das Licht den Schatten. Von einer Möglichkeit des Zweifelns konnte bei jenen Naturmenschen gar keine Rede sein. Alle diese Ueberlieferungen standen in ihnen unerschütterlich fest; der Aberglaube war ganz mit ihnen verwachsen und ein integrirender Theil ihres geistigen Wesens. Da wuchs die Wünschelruthe, und ihr Zaubersegen, d. h. der mysteriöse Spruch, mit welchen, sie gebrochen werden mußte, pflanzte sich von Mund zu Mund. Ebenso der Diebssegen, womit man Diebe fest machte. Da gab es eine Zauberformel, womit man Heckegeld machen konnte und eine andere, wodurch diese unheimliche Kraft wieder aufgehoben wurde. Da gab es Hexen und Hexenmeister, die Läuse machen, den Kühen die Milch versiechen lassen, die Kinder krank machen konnten, und dann gab es wieder Geheimkünste, die Läuse zu versprechen, das Geld im Kasten und in der Tasche durch Zauber vor Dieben zu schützen, das Vieh vor Hexenmacht zu sichern, versetzte Schätze zu heben, sich unsichtbar zu machen und tausend andere solche Dinge. Auf den Bergen wuchsen Kräuter und Sträuche, die zu Zauber und Gegenzauber unentbehrlich waren, z. B. das Elferhirtenholz (viburnum opulus flore roseum), welches jetzt als Zierstrauch in den Gärten steht, dem die alten Rühler eine höchst wunderbare Kraft beilegten.

Auch gegen jede Krankheit und Leibesbeschwerde stand ein Heilkraut in den Bergen, oft nur an ganz bestimmten Orten und war nur an gewissen Tagen, zuweilen sogar nur an bestimmten Stunden zu pflücken. Eben so standen an vielen bekannten Orten zu gewissen Stunden des Jahres Schätze zu Tag, und wer da ein schneeweißes Tüchlein darauf warf, konnte sie gewinnen. Gar viele Menschen aus der frühern Zeit sollten solche Schätze (meist silberne Schüsseln und Kannen) gesehen haben, aber stets waren sie verhindert worden, sie sich zuzueignen. In gleicher Weise gab es viele Stellen im Orte selbst und in den Bergen und Gründen, wo es spukte. Das nationalste von den umwandelnden Gespenstern („Wannerdenger“, d. i. Wanderdinger, Wanderwesen genannt, wie denn „wanner“, wandern der rühler Ausdruck für gespenstisch umgehen ist), war der „Bieresel“, ein gespenstisches Ungethüm in Gestalt eines Esels, das sich den Männern aufhockte, die nach Mitternacht etwas aufgeregt aus den Bierschenken heimkehrten, und das sie unter großer Anstrengung eine Strecke lang, meist bis an ihre Hausthür, tragen mußten. Thiere mit drei Beinen, Pferde ohne Köpfe, ein Reiter mit dem Kopf unter dem Arme, hatten ihre bestimmten Plätze. Es ist immer der wilde Jäger mit seinem Gefolge, es ist der seiner Götterherrlichkeit entkleidete und zum Gespenst herabgewürdigte Wotan. Die „gläserne Kutsche“ spielte eine vorzügliche Rolle in den Volkserzählungen der Rühler, die mit hohen spukenden Herrschaften (heidnische Götter) befrachtet, mit Geisterpferden bespannt, an steilen Abhängen rasch und geräuschlos dahin fuhr. Es ist der uralte Götterwagen der Frau Holda (Freya), der hohen Göttin, in welchem sie ihren Umzug durch das Land hielt. Das „wüthende Heer“ (verderbt aus Wuotans Heer, obgleich Wuotan hinwiederum von „Wuth“ abgeleitet ist) braus’te in den zwölf Nächten durch die Berge und Thäler, und der „feurige Mann“ wanderte auf den Grenzen der Grundstücke und suchte vergebens die Stelle, wo er den im Leben verrückten Grenzstein wieder hinsetzen könnte. Weiße Jungfrauen mit Schlüsselbunden traten aus Felsen heraus und luden zum Eintritt ein; Mönche gingen auf einsamen Waldwiesen um; Kroaten und Panduren aus dem dreißigjährigen Kriege spukten an allen Orten und Enden. Wer sich im Walde verirrte, war über „Irrkraut“ gegangen, und geschah es öfter an demselben Berge, so kam dieser wohl gar in Verruf, und Jedermann mied die bezeichnete Gegend so viel als möglich. Die Irrlichter waren Hexen und böse Geister, und die Sternschnuppen Höllenbraten oder der Teufel selbst, der da kam, um seinen Bräuten, den Hexen, Töpfe voll Rahm zu bringen, damit sie fette Kuchen backen konnten. Niemand wagte aber, ihn mit seinem eigentlichen Namen zu nennen; er hieß der „bös’ Vahl“ (verderbt aus Volland), der „bös’ Ritt“ (Ritter, Junker); seine Großmutter: „die beste Kötsche“ und die „Biizmuß.“ – Wackelte ein Stein im Keller, so lag darunter ein Schatz, versteht sich mit Zaubersegen versetzt, und die Familie delibrirte Jahre lang, wie er zu heben sein möchte, zog wohl auch erfahrene Nachbarn und Freunde zur Berathung, befragte weise Männer und machte allerlei vergebliche Versuche.

Gegen Krankheiten, besonders örtliche Schmerzen, war außer den Wunderkräutern der Berge das mysteriöse Versprechen sehr gebräuchlich. Wurde es schlimmer, so suchte man die Hülfe eines Wunderdoktors oder weisen Mannes. In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts hatte der Hirt Hans Heß als solcher einen hochberühmten Namen; gegen Ende desselben nahm der viel besprochene „Vörwerts-Häns“ in Thal seine Stelle ein.

(Schluß folgt.)




Lebensbilder aus dem englischen Parlamente.


II.
John Arthur Roebuck.

Grade vor einem Jahre blickte ganz England und alles politische Publikum der Erde mit der größten Aufregung nur auf zwei Zeitereignisse, auf den „Kriegsschauplatz“ und auf den „roebuck’schen Antrag“. An einem heißen Juli-Abende erhob sich im Unterhause ein kleiner, kranker, verrunzelter, alter Mann mit spärlichem, sandigen Haar auf seinem gebeugten Haupte über einem blassen, galligen Gesichte, durch ein Leben fruchtlosen Kampfes verwüstet und zur Greisenschwäche abgedörrt durch eine lange Krankheit – der „wohlbekannte Senator“ – der alte, scharfe Radicale Mr. Roebuck. Mit schwacher, kränklicher, aber harscher Stimme stellte er seinen Antrag, der so lange gedroht hatte wie ein Gewitter in heißen, schwülen, verschmachtenden Tagen und so oft wieder „verschoben“ worden war, sein Tadelsvotum gegen das Ministerium Palmerston, unter dessen erbweiser Fürsorge die englische Armee auf der Krim verhungert, erfroren, durch dessen „Mißverwaltung“ England im Innern vor aller Welt seines Heiligenscheins, unter dem es für die „Civilisation“ gegen „Barbarei“ zu kämpfen vorgegeben, beraubt und von den „Sehenden“ bereits mitten in der Lüge und dem Verrath ertappt worden war.

Er schleuderte Blitze und donnerte, der alte berühmte Jupiter des parlamentarischen Radicalismus, er blickte Dolche aus seinen stechenden Augen, er redete zweischneidige Henkerschwerter von Thatsachen gegen das Ministerium; aber der Himmel blieb verschlossen über England. Es regnete nicht und Palmerston blieb König von Großbritannien. „Die Ministeranklage“, durch welche nach Burke’s Behauptung „England groß ward“, ist längst abgeschafft.

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