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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

man darauf das Seufzen der gequetschten Lungenflügel und ich kann behaupten, daß den Meisten darauf die Pfeife ausging.

Die Grausamkeit dieser Situation wurde noch durch die Aufmerksamkeit der Polizisten erhöht, welche um uns Schlaf zu gönnen, Strohbunde in den Saal hineinwarfen, indem sie wahrscheinlich glaubten, dieselben würden den Boden schon finden und die Gesellschaft würde sich die Bequemlichkeit eines Lagers nicht entziehen. Doch es war nicht möglich das Stroh auf den Fußboden zu bringen und so lag es denn in großer Menge auf unsern Köpfen und schlief auf uns, statt wir auf ihm. Man kann sich keinen Begriff von dieser Lage machen und wie viel Ohnmächtigen es nicht gelang zur Erde zu fallen; auf die Knieen fielen wir fast vor Dank, als sich am Morgen die Thür öffnete und uns der Besuch des Hofes gestattet wurde.

Der Hof der Conciergerie ist eine pariser Kuriosität, und seine Steine sind mit geronnenem Blute zusammen verbunden. Man hat einen kleinen Blumengarten in seiner Mitte anlegen wollen, – die Blumen blühen und wachsen aber nicht. Auf diesem großen viereckigen und von den hohen Gefängnißmauern eingeschlossenem Hofe der Conciergerie stand in der Zeit der Revolution eine Guillotine und das Blut der Girondisten sättigte tagelang diese Erde. In dem großen Kirchenschiff mit mächtigen Pfeilern und weißer Tünche, in welchem wir die Nacht über die Lehre der Kompression deutlich kennen lernten, sieht man aus der Girondistenzeit her noch Hunderte von Namen und Redensarten eingekratzt, die ein besonderes Tagebuch bilden. Oftmals sind die Buchstaben drei bis vier Zoll hoch und starren von einer Höhe der Mauer herab, bis zu welcher man vermeinen sollte, daß ein menschlicher Arm ohne hohe Leitern nicht hinaufreichen könnte. In jener Nacht stand ich dicht neben einem Pfeiler, in dessen oberer Hälfte jene großen eingekratzten Worte mich fortwährend anstarrten:

Jean Bourgonnais
homme de Virginie, girondiste
sera guillotiné demain 31. Oct. 1793.

und etwas niedriger der Name Brissot. Sollte dies der Chef der Girondisten gewesen sein, den man an demselben 31. October guillotinirte?

Bereits war es Abend und zum Glück hatte man uns noch nicht wieder in jene furchtbaren Kellerräume der Conciergerie geführt. Plötzlich wurden mehrere Namen aufgerufen und auch der meinige; aber anstatt in Freiheit zu kommen, wurden wir in die dazu eigens gebauten Zellenwagen gesetzt und unter Gensd’armerieescorte in der Nacht nach dem Zellengefängnisse Mazas geführt, in welchem unter Anderm auch mein Gönner und Freund Viktor Hugo, die Generale Lamoricière, Changarnier und Cavaignac saßen. Dieses große und ausgezeichnet eingerichtete Zellengefängniß, wo der Gefangene so zu sagen in ein lebendiges Grab begraben und jede Berührung mit der Welt ihm verboten ist, war ebenfalls überfüllt und zwei Tage darauf vertauschte ich diesen Aufenthalt bereits mit einem vierten, zu welchem ich unter Umständen geführt wurde, welche Zeit meines Lebens für mich unvergeßlich bleiben werden.

Es war nämlich gegen elf Uhr Nachts, als der Wärter mich plötzlich weckte und mich zum Ankleiden aufforderte. Ich traute meinen Ohren kaum, denn wohin sollte ich nun noch geführt werden? Wieder war es der Gedanke, wohl gar in Freiheit gesetzt zu werden, der mich beim Ankleiden beschäftigte und das ungewohnte Lärmen und Rennen auf den langen Korridors des noch mit Gas erleuchteten Hauses versicherte mich andrerseits, daß ich nicht der Einzige sei, dem unter allen Umständen doch eine Veränderung seines Looses bevorstehe. Endlich öffnete man meine Thür und in dem in diesem Gefängnisse üblichen Trott lief ich dem Ausgange zu, wie man mir bezeichnet hatte. Vor dem Gebäude selbst stieß ich auf einen bereits langen und in Kolonne aufgestellten Zug, während hinter mir fortwährend sich die Glieder dieser Kolonne vermehrten. Alles war in so rosafarbener Laune wie die Nacht schwarz war; nur das blutrothe und grelle Licht von Hunderten von Fackeln beleuchtete dies Gemälde, dessen vollständige Komposition ich noch nicht kannte. Das Einzige, was uns Alle beschäftigte, war die Freude, wahrscheinlich jetzt nach der Präfektur geführt und dort entlassen zu werden; aber Einige machten auch ernste und finstere Gesichter und ließen mich leidlich bange werden „Nachts um die zwölfte Stunde“ mein Grab verlassen zu können. Aber wohin gehen wir? Auf diese Frage wußte kein Mensch zu antworten.

Endlich setzte sich der ziemlich lange Zug, der etwa zweihundertfünfzig Menschen umfassen mochte, in Bewegung und nun erst sah ich ein, welche wichtige Personen wir waren und welche große Suite man uns gegeben hatte, die uns zu allem Andern, aber wohl nicht zur Freiheit geleiten konnte. Dem Zuge voran gingen zwei Züge Infanterie und etwa fünfzig Gensd’armen zu Pferde; zu unseren beiden Seiten hatten je drei Glieder Munizipalgardisten ein undurchdringliches Spalier gebildet, welches durch daneben reitende Gensd’armen verstärkt wurde. Den Schluß bildete wiederum starke Infanterie und Kavallerie. Dieser Aufwand von Truppen, dem zu unserem verzweiflungsvollen Genuß noch das dumpfe Rollen zweier Kanonen beigegeben war, belehrte wohl Alle, daß Arkadien nicht unser Ziel sei, obgleich wir darin geboren wurden. Jemehr sich dieser Zug dem Ende von Paris näherte und endlich den Weg nach Bicêtre einschlug, jemehr wurde es still und jemehr verschwanden die kurzen Thonpfeifen von den Lippen; feierlich und stumm wie ein Grabgeleit und entsetzlich durch die rothe Glut der Fackeln in den Händen langbärtiger Pompiers gemacht, folgten wir unserer Bestimmung, welche bekanntlich das Einzige ist, womit man sich im Unglück tröstet. Leise flüsterte es von Mund zu Mund bange Besorgnisse um das Leben, und Einer raunte dem Andern in’s Ohr, daß man erst gestern 211 Mann bei Vincennes erschossen habe. Aber konnte man uns denn ohne Urtheil und meist ohne Schuld so ohne Hindernisse aus einer Welt in die andere schicken? Freilich sagte man sich, daß dies unerhört wäre, aber das Unerhörte ist der Seltenheit wegen oft sehr gesucht.

Schon sahen wir die hohen Zickzackmauern der Befestigungen um Paris, als plötzlich die Irrenhausuhr von Bicêtre langsam und mit grauenhaftem Klänge Mitternacht schlug. Welche furchtbare und geheimnißvolle Wirkung dieser Glockenklang bei mir und bei vielen Andern hervorbrachte, kann man sich nur erklären, wenn man unserer ungewissen und peinlichen Situation Rechnung trägt.

Plötzlich commandirte man Halt. Jedes Herz schlug ängstlich als man uns nun einzeln an die Mauer der Fortifikationen im Rechteck aufstellte und die dichten Kolonnen der Infanterie die dritte Seite dieses Dreiecks schlossen. Hoffen und Verzweiflung schlug noch einen letzten und schweigenden Kampf. Sollten wir in der That erschossen werden? Diese furchtbare Ahnung gestaltete sich bald zur Gewißheit, als das Militair plötzlich die Gewehre abnahm und einem leisen Commando gehorchend, die Ladestöcke in die Gewehrläufe hinabrieseln ließ. Jetzt war kein Hoffen mehr und die Hälfte der Unglücklichen fiel bebend auf die Kniee und weinte zu Gott. Viele stürzten vor und betheuerten ihre Unschuld und flehten um Gnade, während die Andern stumm und bleich vor sich hinsahen und ihr Schicksal erwarteten.

„Mein Gott! Was wollt Ihr denn?“ rief der commandirende Oberst, als er diese beim Schein der Fackeln großartig gestaltete Bewegung sah.

„Gnade! Gerechtigkeit!“ erscholl es fast einstimmig.

„Man wird sie Euch ja geben, oder denkt Ihr, man wird Euch hier wie tolle Hunde niederschießen? Ich glaube gar!“

Diese Worte belebten jedes Gemüth. Die Freude zum Leben exaltirte die schon mit sich abgeschlossenen Unglücklichen und sie fielen sich gegenseitig beim Gelächter der Soldaten um den Hals. Man zählte uns einfach nur und alsdann bewegten wir uns wieder in derselben Ordnung vorwärts, den Berg hinauf, die Zugbrücke hinüber, in das Fort Bicêtre hinein.

Wohl aber weiß ich, daß Niemand von uns jene schreckliche Todesangst vergessen hat.

Einige Minuten später waren wir vor den Kasematten angelangt, in der je einer achtzig Mann hineingelassen wurden. Beim Licht einer großen Laterne vermochte man diesen langen Voutenraum ganz leidlich zu übersehen, nur war diese Handlung von sehr kurzer Dauer, da sich weiter Nichts als Matratzen auf der Erde an den Seiten der Mauern befanden. In den spätern Tagen, nachdem sich auch die Gesellschaft durch Ab- und Zukommen und Anderer Vertheilung so zu sagen constituirt hatte, setzte man auch einen großen eisernen Ofen in die Mitte der Kasematte, verabreichte neue wollene Decken und organisirte überhaupt so praktisch, daß außer der Freiheit nichts zu wünschen übrig blieb. Die Kost war äußerst gut und an jedem Tage gab es Fleisch; des Sonntags überdies ein Maaß Wein. Außerdem war es Jedem freigestellt, sich selbst zu beköstigen und der drei Mal des Tages kommende

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