Seite:Die Gartenlaube (1856) 350.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

vor den Männern eingeräumt hatte. Der arme Mann! Er war Anachoret inmitten eines civilisirten Volks und hatte keine Ahnung von den süßesten Freuden dieser Welt. Sein Leben war in der freien Stadt Bremen unter Essen, Trinken und Rauchen verflossen. Uebrigens kleidete er sich mit Hülfe seines Lorenz sehr geschmackvoll, war ein wohlunterrichteter Mann – eigentlich Kaufmann, denn er gehörte nicht zu den studirten Senatoren – hatte eine schöne, breite Figur, eine gerade, offene Stirn, spärliche graue Haare und einen feinen Anflug von der Röthe, die man die Weinröthe nennt. Wäre er verheirathet gewesen, so hätte man ihn den Typus der Patrizier nennen können, die 1630 den letzten Hansetag in Lübeck beschickten, und die Rose in dem Rathskeller zu Bremen pflanzten.

Der Senator hatte viel zu denken, so daß er schon nach zehn Minuten seine Begleiterin, die sich durch keine Bewegung bemerkbar machte, vergessen hatte; er war nur mit sich und seiner Cigarre beschäftigt. Den Charakter der Gegenstände, über die er nachdachte, konnte man aus seinen Mienen schließen: bald lächelte er wie ein Stillvergnügter, der den Himmel in seiner Brust findet; bald kniff er die Lippen zusammen wie ein Mensch, dem ein treffender Witz das Zwerchfell erschüttert, aber sich schämt, laut darüber zu lachen – dann wieder schüttelte er ernst das Haupt, bewegte die Lippen, als ob er eine gewichtige Rede hielte, legte die Stirn in Falten oder machte mit der Hand, welche die Cigarre hielt, eine entscheidende gebieterische Bewegung. Dabei hatte sich nach einer Viertelstunde der elegante Wagen dergestalt mit Tabaksrauch gefüllt, daß die Frau Landdrostin, die an eine solche Atmosphäre nicht gewöhnt war, erst zu hüsteln, dann laut zu husten begann. Aber der Herr Senator hörte dieses Avertissement nicht, das jedem fühlenden Manne ein Befehl gewesen sein würde. Er dachte, lächelte, lachte, zürnte und rauchte fort.

Die Landdrostin, die immer noch ihren Schleier nicht gelüstet hatte, versuchte mit ihren kleinen, behandschuhten Händen ein Fenster zu öffnen – es war umsonst, ihre Kraft reichte nicht aus. Sie hielt ihr feines Batisttuch mit brüsseler Spitzen über dem Schleier vor den Mund – aber auch dieses Mittel schützte nicht vor dem sich stets mehrenden Ambradufte der Havanna.

„Mein Gott,“ seufzte sie, „das wird zu arg!“

Es schien, als ob ihr Stolz verschmähete, das zu fordern, was die Höflichkeit gebot. Vielleicht auch hielt sie es unter ihrer Würde, mit dem octroyirten Begleiter ein Gespräch anzuknüpfen, und die Bitte um Einstellung des Rauchens mußte nothwendig zu einer Anknüpfung werden, da sie eine Gefälligkeit in sich schloß.

Plötzlich hielt der Zug an, und die Stimme des Conducteurs rief: „Wolfenbüttel! Zwei Minuten!“

Nach einer Minute ward die Thür des Coupé’s geöffnet und Lorenz erschien mit einem Krystallglase, in welchem der Madeira funkelte, den der Senator bestellt hatte. Der Senator führte Wein aus seinem eigenen Keller mit sich. Während die Landdrostin die frische Luft einsog, schlürfte der Senator den Madeira. Der Weingeruch am frühen Morgen machte die Dame schaudern; sie wollte mit dem Schaffner sprechen; dieser aber zeigte sich nur wie eine flüchtige Erscheinung, er schloß rasch die Thür und verschwand von dem trüb angelaufenen Fenster. Der Schnellzug raste weiter.

Halb ohnmächtig vor Zorn und Ekel sank die Dame in die Kissen zurück; sie mußte sich der Gefangenschaft von Neuem unterwerfen. Der furchtbare Begleiter verblieb in seiner unerschütterlichen Ruhe, in seinem eisigen Schweigen. Jetzt, wo er nach Wein roch, hätte die Landdrostin sich um keinen Preis mit ihm in ein Gespräch eingelassen. Unter solchen Umständen wurden die Minuten zu Stunden. Je mehr Rauchwolken dem Munde des Reisenden entströmten, je peinlicher ward die Lage der armen zartnervigen Frau, die bedauerte, nicht ein Coupé für sich allein genommen zu haben.

Die Luft in dem engen, geschlossenen Raume war nach kurzer Zeit so dicht, daß die Landdrostin fast erstickte. Sie warf den Schleier zurück, und sah durch das Fenster, indem sie ihrem Begleiter den Rücken zuwandte. Aber die Luft ward dadurch nicht reiner.

„Mein Herr, mein Herr,“ rief sie endlich, „ich muß sie bitten, das Rauchen einzustellen!“

Der denkende Senator erinnerte sich jetzt, daß er nicht allein war; er wandte sich und sah in das exaltirte Gesicht seiner Begleiterin. Dieses Gesicht gehörte zwar einer Frau von vielleicht fünfzig Jahren an, aber es trug noch die unverkennbaren Spuren einer zarten, pikanten Schönheit. Der Hut drückte einige braune Locken an die Schläfe; das große dunkle Auge war noch glänzend, der Mund zeigte weiße Zähne, über dem Munde spielte der leichte Schatten eines Bärtchens, und an der linken Wange befand sich ein kleiner Leberfleck, der ihr im achtzehnten oder zwanzigsten Jahre zum Entzücken schön gestanden haben mußte. Die Brauen waren stark und schwarz; der Teint war zart weiß, und die kleine, sanft gebogene Adlernase verlieh der Physiognomie einen imponirenden Adel.

„Madame,“ antwortete sehr artig der Senator, „ich bedaure, daß Sie mich nicht früher auf ein Versehen aufmerksam gemacht haben, das Ihnen, wie ich begreife, sehr unangenehm sein muß. Ich bin zwar ein leidenschaftlicher Raucher, aber ich bringe gern ein Opfer, um mich Ihnen gefällig zu zeigen.“

Nach diesen Worten öffnete er ein Fenster, warf die brennende Cigarre hinaus, und wollte das Fenster wieder schließen.

„Bitte,“ sagte rasch die Dame, „lassen Sie offen!“

„Mit Vergnügen!“ antwortete ruhig der Reisende, indem er das Fenster befestigte.

Eine blaue Rauchwolke zog aus dem Wagen in die frische Morgenluft hinaus. Die Landdrostin nahm ihr weißes Tuch, und beschleunigte durch Wehen den Abzug dieser Wolke.

„Puah!“ rief sie mit aristokratischem Widerwillen, indem sie wie erschöpft in den Sitz zurücksank.

Das Benehmen der Dame, so großer Artigkeit gegenüber, berührte den Senator unangenehm, denn er besaß eben so viel Patrizierstolz, als Ruhe und Gelassenheit. Der Gedanke, daß sie ihn für weniger halten könne, als er war, bestimmte ihn, der ohne Zweifel sehr vornehmen Dame durch ein Gespräch seine Ebenbürtigkeit zu beweisen.

„Das Reisen,“ begann er, „hat stets seine Unannehmlichkeiten, und zu den größten derselben rechne ich die Unterbrechung der alltäglichen Gewohnheiten, die in der Heimath das Leben angenehm machen.“

„Warum bleiben Sie denn nicht zu Hause?“ fragte spöttisch die Dame, die keine Lust hatte, sich mit dem ihr verhaßt gewordenen Manne in ein Gespräch einzulassen.

„Das ist ja eine malitiöse Person!“ dachte der Senator.

„Nun wird er wohl schweigen!“ dachte die Landdrostin.

Aber sie täuschte sich, denn der Senator Beck war nicht der Mann, der aus Höflichkeit schwieg, wenn ihn eine Frau beleidigte, und vorzüglich eine alte Frau.

„Madame,“ sagte er lächelnd, „dieselbe Frage könnte ich an Sie richten.“

„Warum?“

„Weil Sie in Ihrem Zimmer fordern können, was man Ihnen auf der Reise, wenn Sie nicht in einem eigenen Wagen fahren, aus Delikatesse gewährt.“

„Sie provociren meinen Dank?“ fragte sie höhnend.

„Nein, Madame; wohl aber glaubte ich, daß Sie einem höflichen Manne gegenüber die Gesetze des Anstandes nicht verletzen würden.“

„Ich richte mein Betragen nach dem Ihrigen ein.“

„Wie Schade, daß Sie eine Frau sind!“ rief der Senator.

„Warum?“

„Weil ich Ihnen sonst eine meiner Havanna-Cigarren angeboten haben würde.“

„Vergessen Sie nicht, mein Herr, daß wir uns hier nicht in einem Kaffeehause befinden!“ rief die Landdrostin entrüstet.

„Die Kaffeehäuser, Madame, scheinen Ihnen nicht fremd zu sein, da Sie die Gewohnheiten derselben kennen! Mir sind sie bis zu diesem Augenblicke fremd.“

„Mein Gott, wohin bin ich gerathen!“ rief die Dame.

„Schöppenstedt!“ rief draußen der Schaffner. „Zwei Minuten!“

Der Zug hielt. Gleich darauf ward die Thür geöffnet und Lorenz erschien, um nach den Befehlen seines Herrn zu fragen.

Unter dem Arme trug er die Madeiraflasche, und in der Hand das Krystallglas. Die Landdrostin hatte verachtend den Kopf abgewendet, um die Trinkscene nicht zu sehen; sie beobachtete durch das Fenster die gegenüberliegenden Häuser.

„Lorenz, in welchem Wagen fährst Du?“ flüsterte der Herr.

„In dem nächsten hinter dem Ihrigen!“ antwortete der Diener.

„Meine Begleiterin kann das Rauchen nicht vertragen, und

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 350. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_350.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)