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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

No. 27. 1856.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Spiele des Zufalls.
Novelle von August Schrader.
I.

An einem trüben Herbsttage Morgens acht Uhr fünf Minuten ward in Braunschweig der Schnellzug expedirt. Das erste Zeichen zur Abfahrt war bereits gegeben und der größte Theil der Reisenden hatte die Wagen bestiegen. Da erschien auf dem Perron ein alter Herr in einem kostbaren Pelze, dem ein Bediente in amaranthfarbner Livree voranging. Herr und Diener hatten graue Haare, sie schienen in einem Alter zu stehen und unterschieden sich nur durch die Kleidung und durch die Körperconstitution. Der Herr war klein und dick, der Diener lang und hager.

„Erste Wagenklasse!“ rief der Diener dem Schaffner zu.

„Hier!“

Der Schaffner öffnete ein Coupé. Mit Hülfe seines Dieners stieg der Herr im Pelze ein, und warf sich behaglich in die gepolsterte Ecke.

„Meine Cigarren, Lorenz!“

„Hier, Herr Senator!“

Lorenz überreichte seinem Herrn ein Etui, dem die Reichhaltigkeit des Inhalts anzusehen war. Während der Senator sich eine Cigarre anzündete, präsentirte Lorenz dem Schaffner das Billet.

„Lorenz!“ ertönte der Baß des Reisenden. „Auf der nächsten Station, wo länger als fünf Minuten angehalten wird, bringst Du mir ein Glas Madeira!“

„Sehr wohl, Herr Senator!“

„Jetzt nimm Deinen Platz ein, und hüte Dich vor Erkältung!“

„Zu dienen, Herr Senator!“

Lorenz entfernte sich. In dem Augenblicke, als der Schaffner die Thür des Coupé’s schließen wollte, erschien eine Frau, die hastig fragte:

„Erste Klasse?“

„Hier!“

Die Frau wandte sich zu einer Dame, die ihr auf dem Fuße folgte.

„Steigen Sie gefälligst ein, Frau Landdrostin!“

Die Frau Landdrostin war völlig in schwarzen Atlas gekleidet; sie trug ein Atlascapuchon mit schwarzem Schleier und einen reichen mit Zobel verbrämten Atlasmantel von derselben Farbe. Ihre Gestalt und Haltung waren graziös, aristokratisch; ihr Gesicht ließ sich nicht erkennen, da der Schleier es dicht verhüllte. Sie trat an den Wagen, dessen Thür man wieder geöffnet hatte.

„Schon besetzt!“ rief sie in einem Tone aus, der mehr Schrecken als Ueberraschung verrieth.

„Ein Coupé erster Klasse enthält zwei Plätze, Madame!“ antwortete artig der Schaffner.

„Weisen Sie mir einen andern Waggon an, mein lieber Freund!“

„Es thut mir leid, daß ich Ihren Wunsch nicht erfüllen kann.“

„Warum? Warum?“

„Weil ein Waggon völlig besetzt sein muß, ehe ich einen zweiten öffnen darf. Ich bitte, beeilen Sie sich!“ sagte dringend der Schaffner, der in diesem Augenblicke das letzte Glockenzeichen und das schrillende Pfeifen der Locomotive hörte. „Ihr Billet?“

„Wenden Sie sich an meine Kammerfrau!“ antwortete stolz die Dame, indem sie einstieg.

Die Thür schloß sich hinter ihr. Die Kammerfrau präsentirte dem Schaffner zwei Fahrbillets, die er coupirte.

„Sie wollen auch mitfahren?“ fragte er.

„Zweiter Klasse!“

„So nehmen Sie rasch Platz, wenn Sie nicht zurückbleiben wollen!“

Der Schaffner riß hastig den nächsten Wagen auf, und schob die korpulente Zofe, die fest in einen grünen Tuchmantel gewickelt war, hinein. Lorenz, der sich zufällig in dem Wagen befand, streckte dienstwillig die Arme aus, und nahm seine Reisegefährtin in Empfang. An demselben Augenblicke setzte sich der Zug in Bewegung. Es war ein Schnellzug – wir sagen daher nichts über die geflügelte Eile desselben. Von den zehn Wagen, aus denen dieser Zug bestand, haben nur zwei Interesse für uns: es ist der erster Klasse, in dem die Herrschaft Platz genommen, und der zweiter Klasse, in dem sich die Dienerschaft befindet. Der letztere folgte unmittelbar dem erstern.

Der Senator Beck, ein ruhiger Charakter, den Kleinigkeiten nicht zu erschüttern vermochten, lag unbeweglich in seinem gepolsterten Sitze und rauchte mit dem hohen Genusse seine Havanna, den die erste Morgencigarre dem leidenschaftlichen Raucher gewährt. Er würde ohne Zweifel der Dame, welche die Kammerzofe Frau Landdrostin titulirt, höflich gedankt haben, wenn diese ihn gegrüßt hätte; aber da sie schweigend und, wie es schien, erbittert über die zufällige Gesellschaft, eingestiegen war und so weit als möglich, von ihm sich niedergelassen hatte, so hielt er es für überflüssig, sich der gewöhnlichen Höflichkeit gegen fremde Damen zu befleißigen, und verblieb als behäbiger Senator ruhig in seiner Ecke. Um seine Gleichgültigkeit noch mehr zu entschuldigen, fügen wir hinzu, daß der Senator, obgleich er schon fünfundfünfzig Jahre zählte, noch Garçon war, und daß er den Frauen nie einen Vorzug

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 349. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_349.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)