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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

nicht, wornach es zuerst greifen soll. Es nimmt einen Gegenstand nach den andern, untersucht ihn mit seinem wißbegierigen Auge, probirt ihn, und – legt ihn weg. Was ist gewonnen? Die Langeweile hat es sich vertrieben, aber es hat nicht das Geringste für seinen Geist gewönnen. Durch solche Spiele, ich nenne sie die Zeitvertreibspiele, wird leicht im Kinde eine Unruhe, ein Zerstreutsein hervorgerufen, welches für dasselbe ein schlechter Schulkamerad und ein noch schlechterer Gast im Berufsleben wird. Solche Kinder wollen dann in der Schule nicht eine halbe Stunde ihren Geist auf einen Gegenstand richten; und kommen sie in ein Geschäft, so muß der Herr oft hinter jedem Auftrage ein derbes Ausrufungszeichen machen, damit sie nicht durch ihre Träumerei und Zerstreutheit, die sie in ihrer Jugend durch’s Spiel gelernt, Unheil anrichten. Unser blondes Lockenköpfchen würde viel besser daran sein, wenn es wenig Spielsachen, aber solche hätte, die fesseln und ausdauernd beschäftigen. Aber gehen wir weiter. Da ist ein Kinderball. Es geht sehr heiter zu. Wir würden es auch sein, wenn wir nicht mit unsern Augen über den Augenblick hinausschweiften. Wir sehen im Hintergründe Leidenschaften, die bald herantreten werden. Da taugt schon die Eitelkeit, die Putzsucht, die Gefallsucht, und da die Kinder recht wohl wissen, was das Tanzen bei den Erwachsenen zu bedeuten hat, der Wunsch auf, bald auch sein Liebeskrämchen machen zu können.

Das ist nicht zu trüb gesehen. Die Erfahrung steht als Zeuge auf. Verfasser dieser Zeilen weiß, daß sich Mädchen und Knaben nach Kinderbällen Briefe geschrieben, zum Spazierengehen eingeladen, und, so zu sagen, ein nettes Vorspiel der Liebe in Kinderschuhen gegeben haben. Außerdem hat das Tanzen im heißen Klima des Tanzsaales für Kinder viel Nachtheiliges hinsichtlich der Gesundheit, und nicht mit Unrecht nennt daher Jean Paul Kinderbälle die Vorreigen zum Todtentanz. Aber an diese Kinderspiele knüpft sich noch manches Andere, welches die Verfrühung mitbringt. Da kommt das Billardspiel, das Kartenspiel, hier und da wohl auch das Rauchen etc. Wie traurig ist ein solcher Vorfrühling der Lust und des Vergnügens für die Jugend. Wenn dann die eigentliche Zeit kommt, wo das Gemüth Kraft genug hat, sich in die Reihen der Freuden zu schwingen, wie arm, wie beklagenswerth sind dann die armen Opfer der Verfrühung. Abgestumpft bereits genießen sie nur halb, und das Poetische, was in dem Jünglings- und Jungfrauenleben liegt, hat ihnen zum großen Theil ihr kindisches Spiel abgestreift. Hört nur zu, wenn junge Leute von 18–20 Jahren unter sich reden, ist es nicht oft die Eitelkeit des Lebens, die sie anklagen, und der raffinirte grobsinnliche Genuß, den sie loben. Das kommt davon, wenn man den Zeiger an der kindlichen Lebensuhr zu rasch umdreht. Unwillkürlich fällt mir dabei das Wort ein, was ich in einer Zeitschrift gelesen: „Die jungen Sprossen unsrer Familien sehen, nach einem gewissen verweichlichten Typus gemessen, gut aus. Sie haben glatte hübsche Gesichtchen, aber ohne die Spur jener kräftigen Entwickelung, die der Species Mann gebührt. Sie sind dünn und knieschüssig, und sehen aus, als ob sie blasirt zur Welt gekommen. Wie kann das anders sein. Sie kriechen aus der Wiege in den Tanzsaal, und von der Amme zum Tanzmeister; kaum haben sie die Kinderklapper weggeworfen, so greifen sie zum Billardstock etc.“

Weg von diesen Bildern der Zerstreuung und Verfrühung! Wir betreten ein anderes Feld. Hier sehen wir zwei Reihen von Kriegern. Es wird eine Schlacht aufgeführt. Freilich wird es dabei etwas heiß zugehen; vielleicht fliegen auch einige große und kleine Kugeln als Kopfnüsse herum. Ein entsetzliches Schauspiel für manche Menschen, die darin nur Rohheit und Gefahren sehen. Aber diese Kraftspiele sind mir zehntausendmal lieber, als die Spiele der Ofenhockerei und Verfrühung. Sie geben dem Kinde ein Bewußtsein seiner Kraft, und nur wer dieses Bewußtsein recht übt und wach erhält von Jugend auf, erlangt die schöne Mannestugend, welche man Muth nennt. Glaubt ihr denn, der Muth ließe sich befehlen? Nicht doch. Es giebt Menschen, die haben Mittel und Gewalt in den Händen, Ungeheueres zu leisten, und leisten doch Nichts, weil ihnen das Gefühl des Muthes abgeht. Man hat sie von Jugend auf geschnürt, gebiegelt und dresiirt, und jede Regung der Kraft beschnitten, was Wunder, wenn sie später geistig erlahmt sind. Die Gefühle, die in der Jugend genährt werden, das sind die Grund- und Bausteine zum spätern Charakter. Da seht Napoleon den Großen in der Militärschule zu Brienne. Die Kugeln von Schnee saußen ihm um den Kopf, er wankt nicht; und das unschuldige Spiel hat vielleicht nicht wenig dazu beigetragen, daß er später auch die bleiernen vertragen konnte. Kraftspiele sind für die Jugend eine Vorschule der Mannestugenden, und wenn dabei nicht der Anstand verletzt wird, oder böser Ernst sich einmischt, sind sie besser als träge Kopfhängerei. „Man bedenke nur,“ sagt Jean Paul, „daß die Jahre zwar das Licht vermehren, aber nicht die Kraft und daß man leichter dem Lebenspilger einen Wegweiser besoldet und mitgiebt, als ihm die Beine und Flügel, die man ihm wider das Verlaufen und Verfliegen abgesägt, wie einer Statue wieder restaurirt.“ Daß man diese Gefühle der Selbstständigkeit und des Muthes auch anders, wie z. B. durch’s Turnen, nähre, ist nur zum Theil wahr. Freilich stärkt das Turnen den Körper und somit auch den Geist, freilich macht es gewandt und giebt dann dem Geiste ein gewisses Vertrauen, aber die Fessel des Unterrichts, wie locker sie auch gezogen ist, beengt doch noch, und daher kann das Turnen die Wirkung nicht hervorbringen, die das freie, ungebundene Spiel hervorruft.

Doch gehen wir weiter. Hier spielen sie Schule; hier ist eine Hochzeit, hier ein feierlicher Aufzug und da gar ein Kram mit Käufern und Verkäufern. Die Sache sieht sehr unschuldig aus. Sie ist’s auch, aber daneben ungemein wichtig für die Zukunft. Wir stehen hier vor den Charakterspielen. Paßt nur auf, jedes Kind wird sich am liebsten in einer Rolle sehen, zu welcher es immer Neigung verspürt, die mit seinem Temperamente, mit seinem kindlichen Ideal am meisten übereinstimmt. In diese Rolle lebt es sich hinein, und gründet sich eine Traumwelt, die ungemein verführerisch ist, weil sie das Ideal ohne Schattenseite, die Befriedigung des kindlichen Geistes ohne Ernst und Schmerz ist. Was Wunder, wenn sich daher bei diesen Spielen Neigungen zu Berufsarten, zu Lebensverhältnissen ausbilden, die später weder durch Vorstellungen noch durch Zwang wieder ausgerottet werden. „Ich weiß selbst nicht wie es kommt,“ sagt dann der junge Weltbürger, „ich habe einmal nur zu diesem Stande Neigung.“ Die Spiele seiner Jugend waren die Schule dieser Neigung. Ein mir bekannter Knabe trieb als 5jähriges Kind immer sein Spiel als Fleischer, und die Eltern lächelten dazu. Mit 14 Jahren erklärte er, zu der Seinen Mißvergnügen (sie hatten ihn für den Kaufmannsstand ausersehen), daß er nie etwas Anderes ergreifen würde, als dieses Handwerk. Jeder Charakterzug, den die Kleinen im Spiele annehmen, läßt eine Spur zurück im Kindesherzen, und wenn ein Spiel recht oft sich wiederholt, so kann die Neigung, das Gefühl des Kindes, welches gleichsam in’s Spiel verpuppt war, auch plötzlich in der Wirklichkeit erscheinen. Daher, meine Lieben, wollen wir die Charakterspiele unsrer Kleinen sorgfältig überwachen, daß nicht böse Dämonen sich dabei in die jungen Herzen schleichen und damit wir das Interesse des Kindes an den Lebensverhältnissen bei Zeiten erfahren, um es noch lenken zu können, je nachdem es die Umstände erfordern.

Aber was hören wir hier? Es werden Räthsel gerathen. Ei, wie strengen sich die kleinen Köpfchen an! Jedes möchte gern zuerst die Nuß knacken. Hier haben wir ein geistiges Spiel, dabei wird das Gehirnturnen geübt. Wer sollte sich darüber nicht freuen! „Ohne Denken,“ sagt schon Bürger, „gleicht der Mensch dem Ochs und Eselein.“ Bekommt das Kind Unterricht, so muß es zwar unaufhörlich am Denkseile laufen; aber man glaube ja nicht, daß die Schule allein im Stande sei, den Geist zu schärfen. Ich mag die vernünftigen Methoden des Unterrichts, die jetzt fast überall regieren, in keiner Weise antasten, aber so viel ist mir gewiß, das gezwungene Denken in Schulen, was gewissermaßen ein gepeitschtes Laufen ist, hat nicht soviel Behaglichkeit, nicht so viel Wohlthuendes, wie das Denken im Spiel, und ist eben daher auch nicht so erfolgreich. Solch’ geistige Spiele sind noch: das Damenspiel, das Bauspiel, wo Verstand und Phantasie zugleich thätig sind, die Rechenspiele etc. Bei allen diesen Spielen kann sich die Blüthe des Witzes und des Scharfsinns recht schön entfalten. Von der Bildung des Witzes war Jean Paul ein großer Freund. Er trieb daher auch mit seinen Zöglingen eine Art Vergleichspiele. Jeder witzige Gedanke eines Kindes wurde sofort in ein Buch eingetragen. Er hat uns deren einige mitgetheilt. So sagte ein Knabe: Jeder Mensch wird von vier Dingen nachgemacht, vom Echo, vom Schatten, Affen und Spiegel. Ein anderes Kind bemerkte: Die Dümmsten putzen sich am meisten, so sind die dümmsten Thiere, die Insekten, am buntesten etc.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 343. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_343.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)