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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Leistungen. Jedermann wird sich wohl jetzt überzeugt haben, daß das Fräulein nicht mehr blind, sondern vollkommen sehend ist.“

Eine allgemeine Stille folgte diesen Worten. Herr von, Paradies war es, welcher dieselbe unterbrach.

„Ich kann mich der Meinung des geehrten unbekannten Gönners des Doctor Mesmer nicht anschließen,“ sagte er mit scharfer Betonung. „Ich suche in diesem Streit ganz zu vergessen, daß ich der Vater des Fräuleins von Paradies bin, und stelle mich auf Seiten des zweifelnden, ungläubigen Publikums, welches durchaus mit positiver Bestimmtheit erfahren will, ob wirklich in unsern Tagen noch Wunder geschehen, und ob es möglich ist, daß ein Mensch wie wir durch das bloße Auflegen seiner Hand Lahme gehend und Blinde sehend machen kann.“

„Der Mann spricht plötzlich sehr vernünftig,“ murmelte Professor Barth seinem Freunde zu.

Herr von Paradies fuhr fort: „Indem ich mich aber so auf Seiten des zweifelnden Publikums stelle, muß ich mir eingestehen, daß die eben geleistete Probe mich nicht hat überzeugen können, ja daß es möglich wäre, Zweifel an ihrer Aechtheit zu erheben. Es wäre möglich, zu denken, daß Herr Doctor Mesmer die große Künstlerin, welche die Gnade hatte, die Seitenzahl zu bestimmen, um die Gunst angefleht hätte, gerade diese Seitenzahl zu nennen, und daß sie es in der Großmuth ihres Zutrauens zu Mesmer, der seit einiger Zeit ihr Arzt ist, ihm bewilligt hätte. Es wäre möglich, daß die gnädige Gräfin nicht bemerkt hätte, daß gerade die Seite durch einen schrägen Kniff am obern Ende bezeichnet war, und demgemäß auch von einer Blinden leicht gefunden werden konnte. Daß dem aber so ist, davon bitte ich Jedermann sich zu überzeugen.“

Er nahm das Buch, welches Therese eben auf das Instrument gelegt hatte, und blätterte darin.

„Hier ist Seite 71, und hier ist der Kniff!“ sagte er, das aufgeschlagene Buch in die Höhe haltend.

„Vater, Du hast soeben einen Kniff in das Papier geschlagen, ich hab’s gesehen!“ rief Therese, alles Andere vergessend, glühend vor Zorn.

Ihr Vater wandte das Haupt halb zu ihr hin. „Gesehen!“ sagte er achselzuckend, und sich dann wieder dem Publikum zuwendend, fuhr er fort: „Es wäre ferner möglich, daß der Herr Baron von Horka, einer der gläubigsten Mesmerianer, welcher die Güte hatte, das Buch hier mir zu übergeben, im Auftrage Mesmer’s gerade dies Buch gebracht, und daß Therese dies durch Mesmer erfahren habe. Wer von einer Sache gründlich überzeugt zu sein wünscht, muß mit dem größten Mißtrauen diese Sache prüfen. Nur von dem glühenden Verlangen beseelt, fest und unumstößlich, von der Heilung meiner geliebten Tochter überzeugt zu werden, ersuche ich das hochgeehrte Publikum, zu erlauben, daß Therese jetzt auch versuche, aus diesen Noten zu spielen.“

Das Publikum gab durch allgemeines Applaudiren seine Zustimmung zu erkennen, und Herr von Paradies reichte daher das Notenheft seiner Tochter dar.

Sie achtete nicht darauf und nahm es nicht an. Sie schien ganz und gar der Gegenwart entrückt, sich gar nicht bewußt zu sein, was hier geschah. Die Hand aufgestützt auf die Lehne des Stuhls, welcher vor dem Instrument stand, schaute sie hinüber zu Mesmer, dessen große, glühende Augen jetzt wieder mit feuriger Glut auf sie gerichtet waren, dessen wunderbar schönes und stolzes Angesicht mit dem Ausdruck eines gebietenden Herrschers ihr zugewandt war. Ihre Blicke wurzelten fest in einander, und aus den seinen schien Therese Trost und Freudigkeit zu empfangen, denn ihre Wangen, welche, während ihr Vater sprach, anfangs marmorbleich geworden, strahlten jetzt wieder im schönsten Incarnat, und ein glückliches Lächeln umspielte ihre schmalen Lippen.

Ihr Vater hielt ihr noch immer, das Notenblatt hin, ohne daß sie es bemerkte. Im Publikum entstand ein leichtes Murren und Zischeln, eine unruhige Bewegung und sofort wandte Mesmer seine Blicke von Theresen ab, dieser Menge zu, welche ihn heute schon so vielfach in Aufregung versetzt hatte.

Jetzt durchflog ein leichten Beben Theresens ganze Gestalt, und wie aus einer seligen Verzückung erwachend, wandte sie den Blick wieder der Erde zu.

Mit einer Geberde des Schreckens nahm sie das aufgeschlagene Notenblatt aus den Händen ihres Vaters, der sie mit einem kalten, spöttischen Lächeln anblickte, und legte es auf das Pult vor dem Instrument.

„Marsch aus Oedipus von Gluck!“ sagte sie mit lauter Stimme, indem sie sich vor dem Instrument niedersetzte.

„Mein Gott, Therese, Du liesest den Titel, ohne das Titelblatt aufgeschlagen zu haben?“ fragte ihr Vater laut.

Sie schrak zusammen und schlug die Augen zu ihm empor. „Ich habe ihn vorher schon gelesen, als der Herr Kapellmeister Ritter von Gluck die Güte hatte, die Noten zu überreichen.“

„Wie, Du kennst den Herrn Ritter von Gluck?“ fragte ihr Vater verwundert. „Er ist niemals in unserm Hause gewesen.“

„Ich habe ihn bei Herrn Doctor Mesmer gesehen,“ antwortete sie schüchtern.

„Ah, der Ritter von Gluck, der die Noten brachte, ist also gleich dem Baron von Horka, der das Buch überreichte, auch ein Freund des Herrn Doctor Mesmer!“ rief Herr von Paradies mit einem Lachen, welches seine Tochter erbeben machte. Um ihn zum Schweigen zu bringen, legte sie ihre Finger auf die Tasten, und begann ein Präludium, das durch feine Kunstfertigkeit, seine perlenden Läufe, seine klaren doppelten Triller, seine kunstvollen harmonischen Uebergänge Jedermann entzückte und in Staunen versetzte.

(Schluß folgt.)




Ein Abend bei Levassor während seines Gastspiels in Leipzig.

Es ist ein wohlthuender Anblick, wenn man alte Herren weinen sieht – vor Lachen, wenn junge Damen ihre glühenden Gesichter kichernd hinter Fächer oder Taschentuch verstecken, wenn sonst trockne Käuze sich ausschütten wollen vor Vergnügen, wenn selbst der vornehme Mann auf einen Augenblick die Contenance verliert – und all’ diese Gemüthsbewegungen durch einen Einzigen hervorgerufen werden, der von der Bühne herab die Herzen seiner Zuschauer gleichsam an einer Drahtsaite hat, die er so geschickt anzuschlagen weiß, daß sie bei Jenen genau so wiederklingt, wie der Spielmann es wollte.

Ein solcher Spielmann ist Levassor, französischer erster Komiker, der uns in einem Spiegel eine Reihe von Charakteren zeigt, die unsere angeregte Lachlust oft bis zur Ausgelassenheit steigern. Dieser Spiegel des Künstlers ist die Wahrheit seines Spiels, die Klarheit und Bedeutsamkeit seiner Gesten und Attitüden[WS 1], der sprechende Ausdruck seiner Mimik, die feinste Charakteristik menschlicher Schwächen, Lächerlichkeiten, Absurditäten, die hinreißende Gewandtheit seiner Zunge – kurz, sein Genie, das hier im Auslande eben so zündet, als auf heimischem Boden.

Levassor erschien an jenem Abend zuerst in einem kleinen Lustspiel als Sir John Esbrouff, wobei er von Fräulein Teisseire vom Théâtre du Gymnase, einer höchst anziehenden Erscheinung, und einigen weniger bedeutenden Kräften, unterstützt wurde. Dieser Sir John, ein Typus der aufgeblasensten Bornirtheit und des englischen Phlegma’s, mit steifem, eingezogenem Rücken, schläfrigem Auge, wohlgepflegtem Backenbart, und dabei fortwährend die Hände in den Rocktaschen, hat eine unbeschreibliche Wuth, die er durch die Zähne herauszischt, über einen jungen französischen Maler, weil dieser ihn karrikirt hat. Einige Tausend Exemplare der schändlichen Conterfei’s hat er schon verbrannt, und immer schießen wieder Hunderte wie Pilze aus der Erde! Zudem ist noch Monsieur Léonard der Geliebte seiner Mündel, Miß Georgine, die er selbst liebt und heirathen will. Der Zufall führt ihn mit dem Maler Léonard zusammen, er fordert ihn auf Pistolen – schießt jedoch fehl, weil, während er auf seinen Gegner zielt, dieser schnell sein Skizzenbuch heraus nimmt, ihn portraitirt, worüber dieser außer sich vor Wuth ist, und nach gefallenem Schuß starr vor Verwunderung dasteht, daß der Maler nicht todt im Sande liegt.

Diese ganze Scene – erst das lange Zielen, dann das unbeschreiblich einfältige Gesicht, mit dem er seinen Gegner fragt: „Sie sind

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Attütiden
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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 328. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_328.jpg&oldid=- (Version vom 21.6.2021)