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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Wieder entstand ein Gemurmel des Beifalls, denn der strahlende, seelenvolle Blick dieser Augen, welche sonst immer stier und seelenlos in das Leere geschaut, war ein neuer Beweis, daß Therese wirklich sehen konnte.

Aber dieses Gemurmel des Publikums erinnerte das junge Mädchen, welche bis jetzt nur Mesmer gesehen, daran, daß sie nicht allein mit ihm sei. Gleichsam erschrocken, wandte sie das Auge von ihm ab und richtete es jetzt zum ersten Mal auf das Publikum, auf dieses Publikum, das da, Kopf an Kopf gedrängt, mit glühenden Augen, mit Blicken kalter prüfender Neugierde sie anstarrte.

Das Anschauen dieser Masse Menschen, diese vielen Gesichter, diese blitzenden Augen, dieses viele Durcheinander machte Therese stutzen und erfüllte sie mit einem unerklärlichen Gefühl der Angst und des Entsetzens. Sie that einen Schritt rückwärts als wolle sie zurückweichen vor diesen vielen Augen, welche auf sie eindrangen, dann griff sie hastig mit ihren Händen umher als suche sie nach einem Stützpunkt, um nicht umzusinken, und sah doch den Stuhl nicht, der dicht neben ihr stand, und auf den sie sehr bequem ihre Hand hätte lehnen können.

Staunend blickte das Publikum sie an, und jetzt waren es die Gesichter des Professor Barth und des Herrn von Paradies, welche einen freudigen Ausdruck annahmen, während Mesmer’s Antlitz sich umdüsterte und eine finstere Wolke sich auf seine Stirn lagerte.

Therese stand noch immer schwankend allein da, verwirrt einige Schritte vorwärtsgehend, und dann wieder angstvoll und zitternd still stehend.

In athemlosem Schweigen starrte das Publikum sie an, und inmitten dieses Schweigens vernahm man auf einmal aus dem Hintergründe des Saals eine Stimme, welche rief: „will denn Niemand dem armen Mädchen die Hand reichen und sie zum Flügel führen? Man sieht ja, daß sie noch immer blind ist!“

Therese zuckte zusammen und schleuderte einen zornigen Blick hinüber nach jener Richtung, von woher die Stimme erschallte.

„Ich bin nicht blind!“ rief sie heftig und als habe diese Beschuldigung ihr ihre ganze Energie und Thatkraft wieder gegeben, schritt sie rasch vorwärts und ging gerade auf das Instrument hin.

Ein rauschender Sturm des Beifalls erschallte durch den ganzen Saal, Therese dankte mit einem freundlichen Lächeln und einer Verneigung, und während sie dann die Handschuh auszog, um zu spielen, blickte sie hinüber zu Mesmer, dessen Stirn jetzt wieder heiter war, und der sie anschauete mit strahlenden Augen.

Ganz befangen von diesem Anschauen, kaum wissend, was sie that, glitt das junge Mädchen auf den Sessel nieder und begann zu spielen. Nicht einmal, während sie spielte, warf sie den Blick auf die Tasten hin, nicht einmal sah sie hinüber nach dem Publikum, wie gebannt schauten ihre Augen hinüber nach Mesmer, dessen Blicke den ihren begegneten und sich mit gebieterischem Willen in ihr Antlitz bohrten. Und unter diesen Blicken jauchzte ihre Seele auf in Entzücken und Wonne, wie getragen von Begeisterung flatterten ihre Finger über die Tasten hin, in schmelzenden und weichen, in starken und mächtigen Klängen alle diese so glühenden und gewaltigen, so geheimnißvollen und zarten Gefühle verkündend, welche die Seele des jungen Mädchens erfüllten.

Man hatte Therese oft schon so auf dem Flügel in freien Phantasien sich ergehen hören, aber niemals waren ihre Phantasien so voll der edelsten Musik, niemals mit so vollendeter Meisterschaft ausgeführt gewesen.

Als Therese daher geendet hatte, und mit einem Seufzer, als erwache sie eben aus einem entzückenden Traum, ihre Hände von den Tasten gleiten ließ, brach das Publikum wieder in einen lauten, einstimmigen Applaus aus, aber dieser Applaus galt diesmal nicht den Augen Theresens, sondern ihrer Künstlerschaft und ihrem wunderschönen Spiel. Therese fühlte das, und mit einem wunderlieblichen Lächeln ihr Haupt dem Publikum zuwendend, grüßte sie es mit einer leichten Verbeugung.

Aber mit dieser freien Phantasie sollten für heute die Produktionen der Künstlerin beendet sein, und die Productionen der geheilten Blinden beginnen. Herr von Paradies hatte in den Annoncen, welche das Concert seiner Tochter betrafen, das Publikum aufgefordert, Notenhefte und Bücher mitzubringen, damit Therese das Publikum von ihrer Heilung überzeuge, indem sie nach den ihr unbekannten Noten spiele und aus den fremden Büchern lese.

Diesem Programm zufolge trat jetzt Herr von Paradies, welcher sich, während seine Tochter spielte, in finsterm, unheilvollem Nachsinnen in eine Fensternische zurückgezogen hatte, an das Instrument heran, und sich tief vor dem Publikum verneigend, sprach er mit lauter Stimme: „Ich ersuche diejenigen verehrten Damen und Herren, welche meiner Bitte gemäß Noten oder Bücher mitgebracht haben, sie gefälligst mir überliefern zu wollen, damit ich sie meiner Tochter gebe, und sie aus denselben spiele oder lese, auf daß das geehrte Publikum selbst erkennt und entscheidet, ob Therese sehend oder blind ist. Ich ersuche Sie um so mehr, mir diesen Liebesdienst zu erzeigen,“ fuhr Herr von Paradies mit zitternder Stimme fort, „als mein geängstetes Vaterherz durch diese Probe doch endlich seine Zweifel gelöst sehen, und mit Bestimmtheit erfahren wird, wer Recht hat, der Herr Doctor Mesmer, welcher behauptet, daß meine Tochter sehen kann, oder ich, welcher leider befürchtet, daß sie noch immer blind ist!“

Ein Gemurmel des Erstaunens durchrauschte das Publikum, ein Schrei des Entsetzens tönte von Theresens Lippen, und mit einem Ausdrucke schmerzlichen Flehens richtete sie ihre Blicke hinüber zu Mesmer, der todesbleich, wie gelähmt vor Schrecken, unbeweglich dastand, und in dessen Augen für einen Moment das mächtige Feuer erloschen war, mit dem er sonst Alle, die ihn anschauten, zu bannen wußte.

Professor Barth hatte mit einem behaglichen Lächeln diese schnelle, unerwartete Scene beobachtet, und sich an Doctor Ingenhaus wendend, flüsterte er diesem einige Worte zu.

Aus den Reihen des Publikums erhoben sich jetzt zwei Herren und näherten sich Herrn von Paradies. Der Eine überreichte ihm ein Buch, der Andere ein Notenheft.

Herr von Paradies hielt Beides seiner Tochter hin. Sie griff, mit einem vorwurfsvollen Blick auf ihren Vater, zuerst nach dem Buch und schlug es auf.

„Emilia Galotti von Gotthold Ephraim Lessing“, las sie mit lauter, silberheller Stimme.

„Sie kann sehen! Es ist unzweifelhaft, sie sieht!“ flüsterten die Zuschauer untereinander. „Sie konnte doch nicht wissen, was für ein Buch man ihr gab! Sie ist nicht mehr blind!“

Theresens scharfes Ohr hatte dieses Geflüster mit Entzücken vernommen, und sie wollte jetzt dem Urtheil des Publikums eine neue Bestätigung geben.

Sie wandte sich daher wieder dem Publikum zu, und mit einem bezaubernden Lächeln sagte sie: „ich bitte eine der Damen um die Gefälligkeit, mir die Seite bezeichnen zu wollen, welche ich lesen soll, und eine andere Dame, gnädigst hierher zu kommen, und zuzusehen, ob ich die Seitenzahl richtig treffe.“

Sofort erhoben sich zwei Damen. Die Eine, den vornehmsten und größten Kreisen Wiens angehörend, näherte sich Theresen, die andere, eine allbekannte und berühmte Künstlerin des Theaters, sprach: „Ich bitte, Fräulein Therese, gefälligst Seite 71 aufschlagen zu wollen.“

Therese blätterte mit hastiger Hand in dem Buch und reichte es dann lächelnd der Gräfin hin.

„Es ist richtig, meine Liebe,“ sagte die Dame freundlich. „Seite 71! Haben Sie die Güte, zu lesen!“

Immer höher stieg jetzt der Enthusiasmus des gläubigen Publikums. Man flüsterte es jetzt nicht mehr, sondern man sagte es ganz laut: „Sie kann sehen! Es ist keine Lüge! Die Wunderkur ist eine Wahrheit!“

Und immer grollender ward das Gesicht des Herrn Professor Barth, immer ängstlicher und bleicher das des Herrn von Paradies, immer freudiger und strahlender das des Doctor Mesmer.

Therese hatte gewartet, bis die gefällige Gräfin auf ihren Platz zurückgekehrt war, alsdann las sie die ihr von der Schauspielerin bezeichnete Seite des Lessing’schen Trauerspiels, das erst seit kurzer Zeit in Wien bekannt geworden war.

Ein Jubel, stärker noch als derjenige, mit welchem man ihr meisterhaftes Klavierspiel belohnt hatte, erschallte jetzt, als die Lektüre beendet war. Er galt indeß nun nicht wieder der Künstlerin, sondern der geheilten Blinden.

Und aus dem Hintergründe des Saales rief jetzt eine Stimme: „Ich dächte, es wären genug der Proben, und Fräulein von Paradies erfreute uns lieber mit einer ihrer herrlichen musikalischen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 327. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_327.jpg&oldid=- (Version vom 23.5.2019)