Seite:Die Gartenlaube (1856) 314.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

„Sie werden sehen, Herr Kollege“ sprach er, sich zu seinem Nachbar neigend, „er wird uns Allen ein X für ein U gemacht haben. Er wird die Gelegenheit benutzen, um vor einer glänzenden Gesellschaft seine erste Augenoperation zu machen, um auf diese Weise schnell einen Ruf zu erwerben. Der Kasten wird seine Instrumente enthalten! Sie werden sehen, im entscheidenden Moment wird er eine Lanzette aus jenem Kasten nehmen, und sie damit operiren.“

„Das heißt, operiren wollen, Herr Kollege,“ sagte Doktor Ingenhaus bedächtig. „Diese Blinde zu operiren, ist unmöglich, wie Ew. Hochwohlgeboren ja selbst zu allererst erkannt haben. Wie soll man operiren, wo nicht zu operiren ist? Das Messer und die Lanzette können doch den erstorbenen Sehnerven ihrer Augen nicht neue Thätigkeit verleihen?“

„Wenn er eine Lanzette nimmt, um ihr damit in die Augen zu bohren, werde ich ihn verhindern!“ rief der Professor mit drohender Stimme. „Man soll es in meiner Gegenwart nicht wagen dürfen, die Wissenschaft zu verhöhnen und die gesunde Vernunft Lügen zu strafen. Ich werde genau Acht geben, und wehe dem Betrüger, wenn ich ihn erwische.“

„Aber der Kasten enthält gewiß keine chirurgischen Instrumente,“ flüsterte der zweite Nachbar des Professor Barth. „Ich denke, ich weiß, was darin ist.“

„Nun, was ist darin, Herr Pater Hell?“ fragten die beiden Herren mit lebhafter Neugier.

„Ein Planet wird darin sein, meine Herren,“ rief der berühmte Astronom. „Sie wissen ja, der Wunderdoctor hat nicht genug an Euren Apotheken, er pfuscht mir in meinen Himmel hinein, und will sich aus meinen Fixsternen und Planeten Arzneien und Latwergen brauen, mit denen er seine Patienten heilt. Hoffe indeß, daß er sich da in seinem Kasten einen Planeten mitgebracht hat, den noch Niemand kennt, und den er daher ungestraft sich vom Himmel herunter langen konnte. Wehe ihm aber, wenn ich heute Abend auf meiner Warte einen meiner Sterne vermisse! Ich werde dann sogleich die Polizei requiriren, und den Monsieur Mesmer als einen frechen Dieb einstecken lassen.“

Die Herren lachten fröhlich über den sarkastischen Scherz des Astronomen, wurden aber in ihrer Fröhlichkeit durch das Eintreten Mesmer’s unterbrochen, der, dem Ruf der Frau von Paradies folgend, jetzt in den Saal trat.

Ohne die Versammlung eines Blickes, eines Grußes zu würdigen, durchschritt Mesmer den leeren Raum und trat auf die Estrade. Sein Antlitz war bleich, aber ernst und energisch, und wie er jetzt, neben dem Tisch stehend, seine großen blauen Augen mit einem langsamen Blick über die Gesellschaft hingleiten ließ, fühlte Jedermann, daß in der Seele dieses Mannes kein Zweifel und keine Unruhe, sondern nur festes, unwandelbares Vertrauen wohne.

Jetzt öffnete Mesmer den Kasten. Ein athemloses Schweigen herrschte in der Gesellschaft, alle diese leuchtenden, fragenden, gierigen Blicke waren unverwandt auf den Doctor gerichtet.

Er schien das nicht zu fühlen. Mit vollkommener Gelassenheit nahm er einen Stuhl und setzte sich nieder. Nun legte er seine Hände in den geöffneten Kasten, dessen Rückseite dem Publikum zugekehrt war.

„Jetzt wird er die Instrumente heraus nehmen,“ murmelte Professor Barth seinem Nachbar zu; aber noch ehe dieser Zeit fand zu einer Erwiederung, erschallte ein Ton von so wunderbarer, seltsamer Gewalt, daß selbst der gelehrte Professor sein Herz davon erbeben fühlte. Und jetzt ein neuer Ton, noch mächtiger anschwellend, noch langsamer in geisterhaftem Geflüster verklingend, und nun reihte sich Ton an Ton, nun durchrauschte den Saal die wunderbarste, nervenerschütterndste Musik. Und alle Gesichter erbleichten, und von den fremdartigen, seltsamen Klängen fühlte sich jedes Herz bewegt, und wie verzückt hingen Aller Augen an diesem Zauberer, der seinem Kasten so merkwürdige, herrliche Musik zu entlocken vermochte.

„Ach, sehen Sie da, Herr Professor,“ flüsterte der Pater Hell, „Sie haben sich nur im Pronomen geirrt. Der Mann hat in seinem Kasten nicht Instrumente, sondern nur ein Instrument.“

„Ja, wahrhaftig,“ flüsterte Professor Barth, „der Planet, den Sie prophezeihten, hat sich in eine Glasharmonika verwandelt.“

„Und die Lanzette, die er führt, ist ein Fischbeinstab mit einem Pfropfen daran,“ sagte Doctor Ingenhaus achselzuckend.

Mesmer spielte weiter; immer lauter, immer machtvoller durchrauschten die Töne den Saal, mit immer sehnsuchtsvollerer Gewalt schienen sie einen unsichtbaren Geist beschwören zu wollen, daß er erscheine.

Und jetzt nahte da durch das Vorgemach eine weiße Gestalt. Sie schwebte näher heran, ihre Füße schienen den Boden nicht zu berühren, man hörte sie nicht, man sah sie nur nahen. Jetzt stand sie auf der Schwelle der Thür. Da blieb sie stehen, angewurzelt, unbeweglich, denn Mesmer streckte abwehrend eine Hand gegen sie aus und bannte sie an diese Stelle.

Aller Augen wandten sich jetzt auf diese Gestalt hin, auf diese „Braut des Tages,“ die da in dem Schmucke ihres bräutlichen Festes sich nahte. Noch waren ihre Augen verhüllt von einer dicken Binde, noch gehörte diese rührende, zarte Gestalt dem Gott des Schweigens und der Finsterniß an, aber sie stand schon auf der Schwelle einer neuen Welt, und das selige Lächeln, welches ihre Lippen umspielte, schien diese Welt mit einem ersten Liebeshauch zu begrüßen.

Athemlose Stille herrschte in dem Saal, langsam nur und leise ließ sich dann und wann ein sanft anschwellender Harmonikaton vernehmen; dann wieder ward Alles still, feierlich, geheimnißvoll.

Da ließ Mesmer die Hand, welche er gegen Therese ausgestreckt hatte, sinken; bald jedoch legte er sie wieder auf die Tasten, und nun durchrauschte der volle Strom der Melodien aufs Neue den Saal.

Therese bewegte sich, sie schritt vorwärts. Lauter, mächtiger erschallte die Musik.

Im Saal ward jetzt das tiefe Schweigen hier und da durch lautes Schluchzen, durch halblaut gemurmelte Gebete unterbrochen. Jedermann fühlte die Bedeutung dieses Momentes und ließ sich von demselben hinreißen. Auf einmal entstand eine Bewegung; einige Damen waren ohnmächtig geworden; ihre zart besaiteten Nerven waren überwältigt worden von dem Eindruck dieser Stunde und dieser Musik[1].

Aber Niemand kümmerte sich um sie, Niemand wollte seinen Platz verlassen, um die Ohnmächtigen aus dem Saal zu führen. Man vergaß ihrer und schaute nur in athemloser Erwartung auf Mesmer und Therese hin.

Er spielte immer fort, aber das Haupt halb rückwärts gewandt, heftete er seine großen flammenden Blicke mit einem gebieterischen Ausdruck auf Therese.

Sie fühlte diesen Blick und erbebte unter demselben. Mit raschem Schritten näherte sie sich jetzt, wie getragen von unsichtbaren Genien schwebte das junge, lächelnde Mädchen mit den verhüllten Augen zu der Estrade hin, und stand jetzt auf derselben, dicht neben Mesmer.

Er deutete mit einem einzigen kurzen Wink seines Fingers auf den Divan hin. Sofort wandte sich Therese von Mesmer ab und ging zu dem Divan, auf dem sie sich niederließ.

„Sie ist gut abgerichtet,“ murmelte Herr Professor Barth. „Das ist natürlich eine verabredete und einstudirte Scene.“

„Wenn man mit einer Glasharmonika Blinde sehend machen kann,“ flüsterte Doctor Ingenhaus, „so verbrenne ich morgen meine Bücher und werde wandernder Musikant.“

„Wenn man mit dem Winken seiner Hand Planeten citiren kann,“ sagte Pater Hell, „so zerschlage ich heute noch meine Gläser und werde Famulus von Mesmer. Es scheint in der That, als ob –“

Die Harmonika verstummte und machte dem leisen Gespräch der gelehrten Herren ein Ende.

Mesmer stand auf, und seine hohe muskelkräftige Gestalt emporgerichtet, näherte er sich Theresen. Sie erbebte und lehnte, schwer athmend, ihr Haupt zurück in die Kissen. Mesmer erhob seine Hand und beschrieb über ihrem Haupte langsam einige Kreise durch die Luft.

„Es brennt und bohrt in meinen Augen wie glühende Dolche,“ murmelte Therese.

Jetzt richtete er die Spitzen seiner Finger gerade gegen ihre Augen und berührte mit denselben die Binde.

„Nimm die Binde ab und sieh!“ rief Mesmer mit gebieterischer Stimme.


  1. Es geschah sehr häufig, daß Damen, ja, sogar auch Herren in Ohnmacht fielen, wenn Mesmer auf der Glasharmonika spielte. Siehe Justinus Kerner. S. 42.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 314. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_314.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)