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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

eine so wohlthuende, Herz und Gemüth stärkende Macht auf alle Menschen aus, als der Thüringerwald. –

Vom Fichtelgebirge schweift in nordwestlicher Richtung ein kleinerer Gebirgszug ab, recht mitten in das Herz Deutschlands hinein, an zwanzig geographische Meilen lang, östlich an der Saale schmal, dann schnell sich beträchtlich in die Breite ausdehnend, so daß sie über fünf geographische Meilen beträgt, dann allmälig verjüngt zulaufend, immer schmaler, bis er in eine Spitze ausläuft. Es ist dies der Thüringerwald, nicht allzuhoch, wahrhaft idyllisch, hie und da sogar romantisch, reich an entzückenden An- und Aussichten, an Naturmerkwürdigkeiten und historischen Erinnerungen. Nirgend ist das Gebirge unwirtthbar, seine Höhen sind mit Holz freundlich bestanden, ihre Wände mit malerischen Felsen geziert, seine Thäler sind saftig grün, von hellen Bächen durchtanzt; in der ganzen Erscheinung, wie in seinen einzelnen Theilen, ist es eins der schönsten Gebirge Deutschlands, ja in gewisser Beziehung das schönste. Gebahnte Wege führen durch die Thäler auf die Höhen, acht Chausseen steigen über das Joch des Gebirges, fast in allen Thälern hat sich die Menschenwelt angesiedelt, in der südöstlichen Hälfte wohnt sie auch auf den Bergen. Die angedeutete Gestalt des Gebirges gleicht einem großen grünen Blatte; mitten hindurch bis zum Ende zieht sich der Hauptgebirgsrücken als Hauptrippe, von ihm aus laufen rechts und links die Nebengebirgsrücken mit ihren Verzweigungen als Nebenrippen, und die grünen saftigen Thäler sind das grüne weiche Fleisch des Blattes. Ja, ein grünes, freundliches Blatt ist dieser Thüringerwald, entsprossen dem gewaltigen Gebirgsstamme, der seine Aeste und Zweige durch Europa ausbreitet; ein schönes, grünes Blatt ist unser Thüringer Wald, das sich Deutschland zu Schmuck und Zierde an seine treu schlagende Brust gesteckt hat. Aber es ist auch die Gestalt eines Herzes, die dieses Gebirge trägt; ein Herz, durchpulst von grünem Waldleben, voll heimlichsüßer deutscher Träume, voll stiller sentimentaler Poesie, voll Sehnsucht und Hoffnung; ein deutsches Herz ist er, das seine Adern, seine frischen klaren Quellen und Ströme dem Rheine, der Elbe und Weser zuführt. Sie gehen aus von ihm, goldglühend und prächtig, wie die vier Ströme, die von Eden ausgingen. Und auch ein Garten Eden ist der Thüringerwald, baum- und wasserreich, gras- und blumenreich, kühl und anmuthig. Wie das waldige, bergige Arkadien in der Mitte des Peloponnes lag, so liegt der Thüringerwald in der Mitte Deutschlands; er ist das deutsche Arkadien.

Und wie die Wälder und Berge schön und anmuthig, so sind die Menschen dort treu und bieder und es ist ein wahres Wort, was einst der große Karl August von Weimar aussprach, als die Rede auf die verschiedenen Nationalitäten des deutschen Vaterlandes kam, und Jeder die glänzenden Eigenschaften seiner Landsleute pries. „Möglich,“ sagte er, „daß Eure Leute mehr von der Kultur beleckt, daß sie nach einzelnen Richtungen hin durch Zufälligkeiten aller Art weiter vorwärts geschritten, aber einen so kräftigen, schönen Menschenschlag wie meine Thüringer, so treu und ehrlich und bieder und so liederreich und poetisch – den sollt Ihr mir noch suchen im ganzen deutschen Reiche.“

In überraschender Weise finden die Reize des Thüringerwaldes von Jahr zu Jahr immer mehr die verdiente Anerkennung; Hunderte von Fremden zieht er während der schönen Jahreszeit beinahe allwöchentlich mit unwiderstehlichem Zauber hin nach seinen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 309. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_309.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)