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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

mir hatten, um meines Unglücks willen begegneten sie mir mit Wohlwollen. Aber werden sie mir das nun auch thun, um meiner selbst willen? Werde ich im Stande sein, mir ihre Gunst zu erhalten? Sage mir, o, ich beschwöre Dich, sage mir, bin ich hübsch genug, daß die Menschen ihre Freude an mir haben können?“

„Ja, Du bist hübsch, Therese,“ sagte ihre Mutter lächelnd. „Du bist eine schöne, schlanke und volle Gestalt, das Oval Deines Gesichtes ist von einer reizenden Lieblichkeit, Deine Züge sind edel und regelmäßig, Deine Stirn ist hoch und mächtig, und wenn erst in Deinen großen dunklen Augen der Strahl des Lichtes aufleuchten wird, dann wirst Du ein schönes Mädchen sein!“

„Ich danke Dir, meine Mutter, ich danke Dir!“ rief Therese freudejauchzend, indem sie die Mutter fest in ihre Arme schloß und ihren Mund mit Küssen bedeckte. Die Mutter machte sich sanft aus ihren Armen los.

„Jetzt muß ich eilen, die nöthigen Vorbereitungen zu treffen,“ sagte sie. „In zwei Stunden schon soll die Operation gemacht werden, und vorher werden sich alle Verwandte, Freunde und die andern vornehmen Gäste bei mir im Salon versammeln. Ich muß also eilen. Alles einzurichten und selber Toilette zu machen. Ich werde Dir die Kammerjungfer rufen, daß sie bei Dir bleibe!“

„Nein, rufe sie nicht,“ rief Therese lebhaft. „Ich bedarf der Einsamkeit und Stille. Auch ich muß mich vorbereiten, muß zu der wunderbaren Stunde meine Seele sammeln und meine Gedanken ordnen, muß allein sein mit meinem Gott, muß zu ihm sprechen in meiner Sprache!“

Sie begleitete ihre Mutter bis zu dem anstoßenden Gemach, und nahm von ihr mit einem herzlichen Kuß Abschied.

Die Blinde war jetzt allein, aber sie durchschritt das Gemach mit vollkommener Sicherheit und ging gerade zu ihrem Instrument hin, das immer geöffnet war.

„Ich will spielen,“ sagte sie leise, „ich will ihn rufen mit meinen Tönen. Er muß es fühlen, und er wird kommen.“

Sie ließ sich auf das Tabouret vor ihrem Flügel niedergleiten und begann zu spielen. Eine wunderbare Musik war es, welche ihre Finger den Tasten entlockten, es war die Verkündigung einer Seele, welche jauchzt und klagt, betet und weint, liebt und verzweifelt. Bald schien diese Musik wie ein Hymnus der Freude aufzurauschen, bald flüsterte und seufzte es aus ihr wie eine tiefe Schmerzensklage, dann wieder schwoll sie empor zu heitern, sonnigen Melodien, und alle Schmerzen und Dissonanzen schienen sich aufzulösen in einem seligen Strom von Harmonie.

Auf einmal durchflog ein Zittern ihre ganze Gestalt, und eine Purpurglut schoß über ihr Antlitz hin. Ihre Hände sanken von den Tasten nieder, ihr Haupt neigte sich auf die Brust, aus der schwere, angstvolle Athemzüge hervorquollen. Wie von einer unsichtbaren Gewalt getrieben, erhob sie sich dann von ihrem Sessel und richtete sich gerade und steif empor, dann mit einer schnellen Bewegung schritt sie von dem Instrument weg bis in die Mitte des Zimmers hinein. Aber hier wieder blieb sie wie festgewurzelt stehen, und ihre beiden Hände krampfhaft auf ihr Herz drückend, flüsterte sie athemlos: „Er kommt! O, ich fühl’s, er kommt! Jetzt, jetzt steigt er die Treppe herauf, jetzt schreitet er über den Flur, jetzt, o, jetzt legt er die Hand auf die Thür, ,d – –“

Die Worte erstarben auf ihren bebenden Lippen, der Athem kam fieberhaft schnell und ächzend aus ihrem wogenden Busen hervor, ihr ganzes Wesen war in Aufruhr und Bewegung.

In diesem Moment öffnete sich die Thür ihres Zimmers leise, so leise, daß auch das schärfste Ohr es kaum zu hören vermochte. Aber Therese hörte es doch. Ein Schrei des Entzückens tönte von ihren Lippen, sie streckte die Arme aus, sie wollte vorwärts stürzen, aber ihre Füße waren wie eingewurzelt, und so mit ausgebreiteten Armen, mit vorgebeugtem Haupt blieb sie stehen. Sie hatte mit ihrem Herzen die Gestalt gesehen, welche da drüben auf der Schwelle der Thür erschienen war. Diese Gestalt war die eines Mannes von kaum vierzig Jahren[1], von stolzem, imposantem Aeußern, von schönen einnehmenden Zügen. Seine großen blauen Augen, in denen ein wunderbaren Leuchten war, ruhten mit einem gebieterischen festen Ausdruck auf dem jungen blinden Mädchen, das im innersten Mark ihres Lebens seinen flammenden Blick empfand und unter ihm erzitterte. Den rechten Arm hielt er ausgestreckt gegen sie gerichtet, anfangs steif und ohne ihn zu regen, dann aber senkte er ihn tiefer hinab und deutete mit dem Finger auf den Fußboden, gerade auf die Stelle hin, wo Therese stand.

Sofort sank die Blinde auf ihre Knie nieder. Ein triumphirendes Lächeln flog durch das ernste Antlitz des Mannes, er hob den Arm wieder empor und winkte mit der Hand.

Die Blinde sprang sofort von ihren Knien empor, ein Freudenruf tönte von ihren Lippen; als hätte sie gesehen, daß er ihr die Arme jetzt ausbreitete, sprang sie vorwärts, stürzte sie, ohne zu schwanken und zu irren, geradeaus in seine Arme und lehnte ihr Haupt an seine Brust.

„Mesmer! Mein Freund! Mein Arzt, mein Erlöser!“ flüsterte sie leise.

„Ich bin’s,“ sagte er mit voller melodischer Stimme. „Ihr Herz hat mich gesehen und erkannt, Therese! Bald sollen es auch Ihre Augen!“

Er führte sie zu dem Divan und ließ sie sanft auf demselben niedergleiten. Dann streckte er zwei Mal seine Fingerspitzen gegen sie aus, und sofort flog ein Zittern durch ihre Gestalt.

„Sie sind heute sehr erregt, Therese,“ sagte er mit leisem, mißbilligendem Ton.

„Ich bin es, weil Sie es sind, mein Freund,“ flüsterte die Blinde. „Ihr Antlitz glüht, Ihre Pulse schlagen, Ihre Augen schießen Blitze, welche eine Welt zerschmettern möchten.“

„Eine Welt der Lüge, der Unwissenheit und der Bosheit,“ rief er mächtig. „Ja, Therese, die will ich heute zerschmettern mit meinen Blicken und mit meiner Hand! Und eine neue Welt will ich dafür aufrichten, eine Welt des Rechtwissens aber des Schauens, des Uebernatürlichen und doch so Natürlichen! O, Therese, wird mir es gelingen? Wird meine Hand die Kraft haben, Ihre Augen zu erlösen, wird mein Geist so mächtig herrschen über dem Ihren, daß er ihm befehlen kann, aus Ihren Augen hervorzublitzen und zu schauen? Werden Sie mir gehorsam sein mit Ihrer Seele und Ihrem Körper?“

„Mit meiner Seele gewiß,“ hauchte sie leise, „denn meine Seele gehört Ihnen einzig und unbedingt, ob mit meinem Körper, weiß ich nicht.“

„Die Seele muß dem Körper gebieten!“ sagte Mesmer streng.

„Sie will es!“ sagte Therese flehend. „O, zürnen Sie nicht, wenn sie es nicht kann!“

„Sie zweifeln, Therese?“ fragte Mesmer, und seine Augen bohrten sich wie zwei Dolche in ihr Angesicht.

„O, Ihre Augen thun mir weh,“ ächzte sie, indem sie ihr Antlitz mit ihren Händen bedeckte, als wolle sie es schützen vor seinen Blicken.

Mesmer schlug seine Augen nieder und wiederholte sanft: „Sie zweifeln, Therese?“

„Ich zweifle, weil ich fühle, daß Sie zweifeln,“ sagte sie ausathmend. „Aber wenn es nun auch wäre, mein Freund? Wenn Ihr großer erhabener Geist nur meiner Seele, nicht meinem Körper gebieten könnte? Was thut das? Ich werde deshalb nicht unglücklich sein, ich werde mich nicht beklagen! Ich sehne mich nicht nach dem Licht da außen, denn das Licht ist in mir! Mein Herz sieht Sie, was thut es also, wenn auch meine Augen Sie nicht zu sehen vermögen! Nein, glauben Sie mir, ich zittere und bange der neuen Welt entgegen, und mir ist, als müßte ich mich vor ihr verbergen in der tiefsten Einsamkeit. meiner Blindheit. O, mein Freund, mein Herr und mein Meister, wenn irgend Zweifel in Ihnen sind, wenn das Werk mißlingen könnte, so versuchen Sie es nicht! Ich bin glücklich und zufrieden, denn ich trage eine Welt in mir und bedarf keine Welt außer mir!“

„Nein!“ rief Mesmer, „das Werk ist begonnen, es muß vollbracht werden. Und es soll und muß gelingen! Es handelt sich jetzt nicht mehr darum, Therese, ob Sie wünschen, sehend zu werden oder blind zu bleiben. Sie müssen sehend werden oder Alles, was ich gewollt, gedacht und erstrebt habe, stürzt in Trümmern über mir zusammen und zerschmettert mein Leben nicht allein, sondern auch meinen Namen und meine Ehre! Der heutige Tag ist der Tag der Entscheidung! Heute wird Mesmer seinen Feinden, und seinen Freunden beweisen, daß er die Wahrheit gesprochen, daß der thierische Magnetismus, den die Aerzte verspotten, den die Wissenschaft verleugnet, weil sie ihn noch nicht kennen, den die Laien für Zauberei oder Betrug halten, daß der thierische


  1. Mesmer war geboren den 23. Mai 1734 in Iznang unweit Constanz.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 299. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_299.jpg&oldid=- (Version vom 22.12.2020)