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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

dessen zeichnen Sie diese Schufte und Bösewichter mit solcher Sicherheit, mit einer Geläufigkeit, die mir Grauen einflößt. Sie sollten gar nicht wissen, was Geld bedeutet, und zu welchen Freveln es niedrige Naturen hinzureißen vermag; statt dessen ist es das Interesse, das Sie erfüllt und bewegt, das Sie zum Bilden drängt, ist es die Seele, die Sie den Gestalten einflößen, die Ihre überwältigte Phantasie hervorbringt. Sie spielen mit dem Entsetzlichsten ohne Bangen, ohne Schrecken. Wie kommen Sie nur dazu, unglückliches Kind, diese finstern Abgründe, diese gähnenden Tiefen des Lebens zu kennen? Wie kommen Sie zu solchen Bildern, solchen Begriffen, zu dieser schaudererregenden Vertraulichkeit mit dem Ungeheuersten?“

Der Knabe schien tief ergriffen von den Worten, deren Sinn er nun faßte. Er sann eine Weile nach, wie um sich genaue Rechenschaft über das Gehörte zu geben, und nach einigen Augenblicken anhaltenden Schweigens rief er: „Beim lebendigen Gott, Sie haben Recht. Ich habe nichts schätzen, nichts hochhalten gelernt, als Geld und wieder Geld. Doch ist das nicht meine Schuld, Monsieur; hören Sie, wie und unter welchen Verhältnissen ich erzogen worden, welche meine Wiegenlieder, welche meine ersten Eindrücke, welche die Blumen waren, die man dem Kinde auf den Weg gestreut, dann werden Sie, dem ich dankbar bin, daß er mich an dem Rande des Abgrunds aus dem Schlafe geweckt, Nachsicht mit mir haben, denn ich habe den Verfall meines Wesens nicht verschuldet.“

„Das glaube ich Ihnen,“ versetzte Herr Beauvoir in einem mildern Tone, zufrieden mit der Wirkung, die seine Worte auf den Knaben hervorgebracht, „denn ich kenne Paris. Ich weiß, was man im Theater, zu Hause, im Bureau und auf der Straße, in Magazinen und Läden zu hören bekommt; freilich sind Sie nicht Schuld, armes Kind, an dem Verfall, wie Sie es nennen; allein Sie müssen sich retten, wenn Sie nicht ganz verloren sein wollen.“

„Ich bin,“ sagte der Knabe, „wie fast alle pariser Kinder, zwei Tage nach meiner Geburt einer Amme übergeben und aufs Land geschickt worden, wo ich bis zu meinem vierten Jahre blieb, und nur selten meine Mutter zu sehen bekam, um sie lieben zu lernen. Ich lernte von meiner Ziehmutter und ihrer Umgebung den größten Werth auf Sous legen, und als ich zu meinen Eltern zurückgebracht wurde, gab man mich in eine Pension, aus der ich nur alle Sonntage ein Mal nach Hause kam, um von meinem Vater, der ein guter arbeitsamer Mann, zu hören, wie schwer und lästig ihm die Ausgabe von sechshundert Franken jährlich für meine Erziehung sei. Kaum hatte ich das zehnte Jahr erreicht, so meinte mein Vater, daß es Zeit sei, daß ich etwas verdiente, statt Geld zu kosten, und er hielt mich zur Arbeit in der Fabrik an, wo auch meine Mutter den ganzen Tag über beschäftigt ist, so daß ihr gar keine Zeit bleibt, die geringste Sorgfalt auf ihre Kinder zu verwenden. Ihre Gesundheit leidet unter der anhaltenden anstrengenden Arbeit; allein mein Vater denkt nicht daran, ihr eine Erleichterung zu verschaffen, wiewohl das für kaum tausend Franken jährlich zu bewerkstelligen wäre, indem er für diese Summe eine aushelfende Person annehmen könnte; denn mein Vater sagt, daß er es so weit bringen müsse, um von seinen Renten leben zu können, und meine Mutter werde dann Zeit genug haben, von der beschwerlichen Arbeit auszuruhen. So sehe ich denn den Gesundheitszustand meiner Mutter sich täglich verschlimmern, und dennoch bei der Arbeit beharren, die der Grund des Uebels ist. Wiewohl das Geschäft ein Bedeutendes abwirft, herrscht bei uns im Hause die größte Einschränkung. In zwei finstern Stuben, deren Fenster in den Hof führen, fünf Treppen hoch, sind wir alle vier Personen untergebracht, aber Magazin und Bureau sind auf’s Glänzendste hergerichtet. Das gehört zum Handwerk, sagt mein Vater. Zwischen meinem Vater und meinem Großvater (dem Vater meiner Mutter) kam es zum Prozesse, Staatspapiere betreffend, welche die Mutter als Mitgift erhalten, welche jener unangetastet wissen, dieser aber verwerthen wollte, weil er mit dem Kapitale höhere Interessen zu erzielen sich getraue. Während des Prozesses mußte die Mutter den Unmuth des Vaters ertragen, und als der Tod des Großvaters ihm ein Ende machte, sagte mein Vater triumphirend: Nun habe ich doch den Prozeß gewonnen. Wenn ich sonst meinen Vater bat – jetzt käme mir eine solche Zumuthung nicht mehr in den Sinn – daß er mir ein Buch kaufe, welches ich gern hätte lesen mögen, da gab er mir barsch zur Antwort, daß dieses unnütz sei, da es nichts einbringe, sondern im Gegentheile Geld koste. Seine Brüder haßt mein Vater der Art, daß wir in seiner Gegenwart niemals ihrer erwähnen dürfen, und warum? Weil er sich von ihnen in einer Geschäftsangelegenheit um 2000 Franken verkürzt glaubt. Von Zärtlichkeit unserer Eltern kann keine Rede sein, denn sie sind zu sehr beschäftigt, um an dergleichen denken zu können. Wenn Uneinigkeit zwischen meinem Vater und meiner Mutter eintritt, sind es jedesmal einige Franken, um die es sich handelt.

„In’s Theater erlaubte mir mein Vater ohne Bedenken öfters zu gehen, weil ihn ein Verwandter, der in der Theaterkanzlei der „Porte Saint Martin“ angestellt ist, öfter mit Freibillets bedachte. Wieder fand ich, daß sich Handlung, Leidenschaft, Intrigue um Armuth und Reichthum drehten. Ueberall, wohin ich blickte, sah und hörte ich, daß Geld die Hauptsache sei, Geld den Mann mache, Geld zu verdienen, einerlei auf welche Weise, das einzige Streben eines vernünftigen Menschen sein müsse. Geld – Geld – war mein erster Gedanke am Morgen, mein letzter am Abend, und da ich Freude am Dichten fand, habe ich es versucht, die Macht desselben zu schildern. Daß ich die meisten niedrigen Leidenschaften kenne,“ setzte er mit niedergeschlagenen Augen hinzu, „werden Sie bei einem Pariser und meiner Erziehung natürlich finden.

„Hier haben Sie, Monsieur, einen flüchtigen Umriß meines Lebens und zugleich meine Entschuldigung. Doch ich schwöre Ihnen, daß ich auf andere Dinge meinen Sinn lenken will, die besser und edler als Geld sind; glauben Sie, daß ich dann ein Dichter werden kann?“

Herr Beauvoir hörte die flüchtige Skizze des Knaben wie etwas Bekanntes an; denn eingeweiht in das Familienleben zu Paris, konnte ihn das, was er täglich in etwas veränderter Form vor sich sieht, unmöglich überraschen; aber das bessere Naturell, verbunden mit einem lebhaften Geiste, das der Knabe an den Tag legte, erfreute ihn, und das naive Versprechen und die naive Frage, mit welchen das Kind die Schilderung beendete, rührte ihn, und er erwiederte: „Sie können noch ein ganz tüchtiger Mensch werden. Arbeiten Sie. Was? Das bleibt sich gleich, nähren Sie sich redlich, seien Sie gewissenhaft in allen Dingen. Halten Sie sich fern von der Gemeinheit und Niedrigkeit, die in Paris auf allen Wegen lauern. Das Geld ist mächtig, mein junger Freund, und gefährlich; damit Sie es unschädlich machen, damit Sie es verhindern, Ihren Glauben zu vergiften, Ihre Träume zu beunruhigen, lernen Sie arbeiten und Ihren Unterhalt gewinnen. Die Laufbahn des Dichters ist eine gewagte. Was Sie als Künstler erzeugen, ist keine gangbare Waare, wie Papier, Tuch und Leinwand, die Jedermann zu schätzen weiß, weil er ihrer benöthigt. Hegesippe Moreau war ein großer Poet und starb im Hospital. Legen Sie Ihrer Charakterstärke nicht diese Prüfung auf. Bleiben Sie bei Ihrem Gewerbe und widmen Sie die Mußestunden Ihren Lieblingsgedanken. Dichten Sie, um sich von der Arbeit zu erholen.“

„Ich danke Ihnen, Monsieur, und wenn Sie erlauben, daß ich Sie von Zeit zu Zeit besuchen darf, werden Sie sehen, wie treu ich Ihre wohlmeinenden Rathschläge befolgen werde.“

„Ich werde mich stets freuen, Sie bei mir zu sehen, um Ihnen, wo ich kann, dienlich zu sein,“ sagte, zu seiner früheren Höflichkeit zurückkehrend, Herr Beauvoir.

Jean verbeugte sich und ging, durchdrungen, erschüttert von der Warnung, von der Weisung des Schriftstellers und fest entschlossen, sich zu einem ediern Menschen durchzuarbeiten. Wird er seinen heilsamen Vorsätzen treu bleiben in Paris? Nur die Zukunft kann diese Frage beantworten.

Wir haben hier keine Dichtung, sondern die lautere Wahrheit erzählt. Und diese Wahrheit ist entsetzlich! Welche Erziehung, wenn ein Kind von fünfzehn Jahren, dessen Inneres nur von heitern, schönen Bildern erfüllt, dessen Herz von aller Gemeinheit und dem Schmutz des Lebens noch unberührt sein sollte, wenn dieses Kind, sagen wir, Verbrechergestalten mit einer Sicherheit zeichnet, wie sie eben nur ein Kenner der großen Welt oder ein ausgefeimter Roué malen kann! Welche Zukunft, welche gesellschaftliche Zustände stehen uns bevor, wenn ein Kind in den Jahren, wo es noch reich an Gefühlen und Illusionen sein sollte, die Geheimnisse des Spiels und des – Ehebruchs als Motiv in seinen ersten dramatischen Spielereien gebraucht. Es ist entsetzlich!

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 283. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_283.jpg&oldid=- (Version vom 21.6.2019)