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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

„Desto besser dann,“ fügte er lachend hinzu; „was bekömmt man so nicht Hiebe und Stöße von allen Seiten und von Jedermann! Auch ich habe meinen Theil, wenn auch nichts davon in meinen Briefen steht, und wenn ich noch ein Paar dazu erwische, so kann ich schon mit fünfundzwanzig Jahren den Invaliden spielen, und, wie sie das nennen, mich auf meine Güter zurückziehen.“

Die drei Tage waren ein Fest für das ganze Dorf; für Maria waren es die drei schönsten Tage ihres Lebens.

Beim Scheiden überreichte Tonietto seinem Vater drei Louisd’or, seinem Bruder einen, Maria ein hübsches Knüpftuch und einen Ring. Bald darauf schickte er ihr, von Venedig aus, mit einem Briefe ein goldenes Kettchen, das fortan nie mehr von ihrem Nacken kam.

Mittlerweile hatte der Krieg mit Oesterreich begonnen; es war der dritte Feldzug, den Tonietto mitmachte. In jeder Schlacht erhielt er, wie er schrieb, neue Hiebe und neue Beförderungen.

Diesmal wurde er am Kopfe verwundet, man wußte es im Dorfe, und Maria war darüber ganz außer sich. Aber er wurde wieder hergestellt und kam zur „alten Garde.“ Wäre er zum Marschall von Frankreich ernannt worden, er hätte keine größere Freude darüber empfinden können, als sich in dem Briefe aussprach, in dem er diese Nachricht mittheilte.

Der Friede führte ihn nach Paris zurück. Von dort aus schrieb er häufig und schickte von Zeit zu Zeit kleine Geschenke für Maria. Er meldete unter Anderm, daß er zum Generalstab übergegangen sei, und ganz gewiß bald zum Offizier ernannt werden würde, und dann! – dann, schrieb er, sind wir Alle glücklich!

So vergingen wieder zwei Jahre. Da begann der Krieg mit Rußland. Tonietto marschirte voll Hoffnung aus. Als er von Smolensk aus schrieb, war kein Zweifel mehr: er war zum Sousoffizier-Adjutant ernannt worden und hatte einen zweiten Orden erhalten, das eiserne Kreuz; es konnte nicht fehlen, daß er vor Beendigung des Feldzugs Offizier war. Uebrigens glaubte man Allgemein, daß dieser Krieg der letzte sein werde; wollte es das Schicksal aber auch anders, so war er jedenfalls Offizier, so dachte man, und Alles ging vortrefflich.

Maria fing an, von denen beneidet zu werden, die sie noch jüngst bedauert hatten; sie schrieb lange Briefe an ihren Bräutigam und Alles schien sich auf’s herrlichste zu ordnen.

So kam der Winter. Da lief plötzlich ein Gerücht um, die ganze französische Armee sei aufgerieben worden. Ich ging nach der Stadt, und erfuhr, daß die Nachricht wahr oder doch nur wenig daran irrig sei. Kein Brief kam mehr an, auch von Tonietto nicht; ebenso wenig von den Andern.

Endlich, gegen December, schrieben einige Piemontesen, daß er beim Uebergang über die Beresina gefallen sei.

Ich sage nichts über den Schmerz des armen alten Vaters, den Kummer der Brüder, die Verzweiflung der armen Maria.

Sie wurde krank und entging kaum dem Tode. Nicht genug damit, das Unglück brach von da an Schlag auf Schlag über die Familie herein. Einer von den Brüdern wurde bei der Aushebung eingezogen und nach Deutschland geschickt; ein paar Monate später – denn die Rekrutirungen dauerten jetzt ununterbrochen fort – marschirte auch der andere ab und wurde nach Frankreich dirigirt.

Aber, wenn das Unglück einmal sich senkt über ein Haus, so wächst es unbarmherzig, und immer dichter fallen seine Schläge, bis das Entsetzen auch den Theilnahmslosesten erfaßt. Die Brüder Maria’s fielen wieder, der eine bei Hanau, der andere unter den Mauern von Paris, unter den letzten Schüssen, die in diesem furchtbaren Kriege fielen.

So war Maria allein übrig geblieben als die einzige Stütze ihrer nun ganz verarmten, von Kummer erdrückten Eltern. Nur das lebendige Gefühl ihrer Kindespflicht und Gottes Wille, konnten ihr die Kraft geben, das Leben zu ertragen.

Das arme Mädchen war damals zweiundzwanzig Jahre alt. Ihr edel getragener Schmerz gab ihren schönen Zügen einen unbeschreiblichen überirdischen Ausdruck. Ihr ganzes Wesen schien erhaben und geadelt.

Armes Kind! Nie mehr sah man sie lachen; doch lag auf ihrem Gesichte auch nicht der Ausdruck wilder Verzweiflung, nicht einmal heftigen Schmerzes; es war ein Ausdruck inniger Betrübniß, wie er nur ihr eigenthümlich war.

1814 kehrten unsere Fürsten wieder; mit ihnen einige wenige Trümmer der ehemaligen großen französischen Armee. Damals erfuhr man einige Details über Tonietto’s Ende. Bei dem verhängnißvollen Rückzug aus Rußland war er einer der Wenigen gewesen, die den Muth nicht hatten sinken lassen. Schien die Kälte unerträglich, so pflegte er zu sagen, er trage zwei Talismane bei sich, die ihm das Herz warm hielten trotz Rußlands Schnee und Eis. Ob er Offizier geworden war, wußte man nicht genau; gewiß war, daß er beständig die Compagnie geführt hatte. Zuletzt waren sie an der verhängnißvollen Brücke angekommen. Er war einer der Ersten, die sie überschritten. Kaum auf dem andern Ufer, hatte er sich wie ein Löwe auf den Feind geworfen, fast in demselben Augenblicke aber eine Kugel mitten in’s Herz erhalten, und er war todt liegen geblieben.

Das Regiment hatte ihn vergöttert; alle Piemontesen waren stolz auf ihn. – Armer Tonietto!

„Arme Maria!“ fügte ich hinzu, „ihr Unglück ist noch größer, sie muß noch leben!“ –

Und doch wußte man noch nicht Alles, was ihr bevorstand. Drei Jahre waren vergangen. Ich hatte Maria nicht verlassen, und hoffte, daß nach und nach die Zeit den Kummer des armen Herzens lindern würde. Auf einmal bemerkte ich, daß ihr Aussehen, ihre Miene, deren schmerzlicher Ausdruck für ewig eingegraben schien, sich nochmals veränderte. Mehrmals suchte ich Gelegenheit, mich ihr zu nähern. Ich hoffte, daß sie mir den neuen Kummer mittheilen würde, der sie augenscheinlich ganz zu Boden drückte. Aber sie schwieg.

Eines Tages endlich hatte ich sie auf dem Wege getroffen, und wir gingen zusammen dem Dorfe zu. Sie schien aufgeregter als jemals. Nach langem Schweigen konnte ich mich nicht enthalten, leise vor mich hin zu sagen: „Arme Maria!“ Da zerfloß sie in Thränen; sie machte eine Bewegung, als wollte sie sich an meine Brust werfen, doch schnell sprang sie zurück, bedeckte das Gesicht mit beiden Händen, und schluchzte laut:

„O, mein Vater!“ rief sie, „sie wollen mich verheirathen!“

Ich gestehe, das hatte ich nicht erwartet, das war mir nie in den Sinn gekommen; unwillkürlich sträubte sich mein Herz gegen einen solchen Gedanken, es kam mir vor wie ein Verbrechen.

Nun auf einmal war mir Alles klar; ich begriff, wie die Dinge standen, und wie es kommen mußte. In der That, die Eltern Maria’s waren in einer verzweifelten Lage. Sie selbst konnten nicht mehr arbeiten, die Brüder waren todt. – Maria, so sehr sie sich Tag und Nacht abmühete, sie allein konnte sie nicht mehr vor dem drohenden Elende schützen. Und das Elend war gekommen.

Gott weiß, wie gerne ich den armen Leuten meine ganze Habe gegeben hätte, um dieses Letzte Maria zu ersparen. Aber das Wenige, was ich besaß, reichte nicht hin zu ihrem Unterhalte. Und wenn ich starb, wer konnte sie ferner unterstützen?

Ich sann und sann, aber je mehr ich überlegte, desto mehr sah ich ein, daß nur ein Ausweg blieb.

„Ja, Du armes Kind,“ sagte ich, und nahm ihre Hand in die meinige, „Du mußt heirathen, weil Dein greiser Vater, Deine blinde Mutter es in ihrem Elende von Dir fordern. Sie fordern von Dir Ruhe und Trost in ihren letzten Tagen; Du darfst es ihnen nicht versagen. Maria, sei tapfer, sei stark! Du zahlst Deine Schuld, Du erfüllst Deine Pflicht auf dieser Erde. O, Maria, es ist kein leeres Wort, das Wort des Herrn, daß wir auf Erden sind, zu dulden. Das ist Dein größtes, Dein schrecklichstes Opfer. O, Maria, dulde Du, was Gott Dir schickt, dort oben winkt Dir der Lohn, dort wirst Du wieder eins sein mit Tonietto, mit all’ Deinen Lieben!“

Sie seufzte tief, dann erhob sie die Augen still zum Himmel; ihr liebliches Antlitz trug wieder jenen schmerzlichen Ausdruck überirdischer Ergebung.

„Ich wußte es wohl,“ sagte sie, „daß auch Sie es so wollten.“

Wir gingen und sprachen kein Wort mehr bis zu ihrem Hause.

(Schluß folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 248. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_248.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)