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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

ruhig in seinem unruhigen Schleier, um welchen die Sternenwelt kreis’t. Der wehende Schleier nimmt unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Dunkele Flecke und phantastische Lichtgestalten wehen und winden sich in ihm umher, aufleuchtend, eindunkelnd, fliegend, aufquellend, untertauchend, als ob eine helle, lichte, leuchtende Masse stets vom dunkeln Grunde auftauche und sich muthwillig auf der Oberfläche umherjage. Die Sonne fängt an sich zu senken. Der Schleier glüht hier und da in Flammen auf, anderswo reißt er auseinander, um uns das Gesicht des Planeten zu zeigen, das aber immer wieder auf phantastische Weise eingehüllt und verschleiert wird.

Dieser riesige Planet mit dem wunderbaren Schleier wird „Erde“ genannt. Gelehrte Seleniten oder Mondbewohner haben längst bewiesen, daß dieser Planet, unsere Erde, unbewohnt, unbewohnbar sei. „Die Erde,“ sagt ein gelehrter Professor der Hauptmondsternwarte, der zu mir heraufgeklettert ist (obgleich ich ihn nicht recht sehen kann, da er weder Luft, noch Wasser enthält, und sich auch in unerklärlicher Weise ganz anders verständlich macht, als durch luftgetragene Worte) „die Erde, welche wir tagtäglich so nahe vor uns beobachten, ist der unbeständigste, unsolideste aller Planeten, ein ewiges Revolutioniren und Umwälzen. Er besteht aus Unbeständigkeit, aus einer kochenden Masse, die nie zur Ruhe kommen kann. Nichts als Sturm, Confusion[WS 1] und Veränderung. Ich würde mich gar nicht wundern, wenn diese stets kochende, siedende Masse eines Tages über- und auseinander liefe. Einige Gelehrte unseres Mondes haben behauptet, es könnten in diesem ewigen Wirrwarr von Licht und Schatten lebendige Wesen leben. Ich habe aber die Unmöglichkeit dieser Annahme längst unumstößlich bewiesen. Wo und wie sollten lebendige Wesen auf der Erde existiren? Auf dem untern, dunkeln Elemente dieses Sterns, den wir manchmal durch den zerreißenden Schleier bemerken? Absurd! Sie würden zerschmettert, ertränkt, erstickt werden von diesem ewig kochenden und brausenden Außen-Elemente. Die geringe Masse des reinen, ruhigen Weltäthers, in welchem wir hier zu Lande auf dem Monde leben und welcher sie durch die Risse in ihrem Schleier erreichen könnte, kann durchaus nicht hinreichen, dort Leben zu erhalten. Würden lebendige Wesen auf der Erde nicht außerdem ununterbrochen von den aufkochenden Stürmen und Dünsten mit in die Höhe gerissen und dann niedergeschmettert werden? Collegen von mir haben die Hypothese aufgestellt, die Erdwesen könnten vielleicht in dem unruhigen Außenelemente selbst leben. Darin könnten sie allerdings unsern himmlischen Aether eher erreichen und athmen, aber wo und wie könnten sie jemals in dieser ruhelosen, unhaltbaren Substanz Ruhe und festen Boden finden, einer Substanz, die gar nichts Substantielles hat, ununterbrochen zerreißt und von elektrischen Feuern durchzuckt wird? Deshalb ist jeder vernünftige Mondbewohner längst mit mir überzeugt, daß die Erde unbewohnt, weil unbewohnbar sei.“

Ich war vollkommen von der so nachgewiesenen Unbewohnbarkeit der Erde überzeugt, bis ich daran dachte, daß ich selbst ein Landsmann derselben sei, mit einem Körper unten, den ich, Gott sei Dank, zu Hause gelassen hatte, um als Phantasie und Gedanke nicht weiter durch diesen rheumatischen und sich leicht erkältenden Cadaver genirt zu werden. Aber die Beweise von der Unbewohnbarkeit der Erde waren ziemlich eben so gut als unsere für die Unbewohnbarkeit den Mondes. Wir sagen: kein Leben auf dem Monde, weil keine Luft, kein Wasser; die Mondbewohner: kein Leben auf der Erde, weil lauter Luft und Wasser, durch welche das Lebenselement des Mondes, der unverfälschte Weltäther, nicht hindurchdringen kann und Luft und Wasser immer zerstörend durcheinanderwüthen. Ich bekümmerte mich weiter nicht darum, und da ich dem astronomischen Professor des Mondes wegen zurückgelassener Sprachwerkzeuge und als bloßer Phantasiereisender ohne Paßkarte nicht antworten konnte, gab ich mich sofort dem herrlichen Licht- und Farbenweben unseres Erdendunstkreises hin.

Dieses ewige Schleierflattern um das Antlitz der Erde im schwarzen Himmelsraume ist unendlich schön und erhaben. Ein weißer Fleck steigt auf und gießt sich nach allen Seiten in tausenderlei phantastischen Metamorphosen in die Weite und Breite, verduftet in dünne, halb durchsichtige Wölkchen, die jeden Hauch des Sonnenlichtes begierig aufnehmen und in farbigen Verklärungen widerstrahlen. Jetzt verschwindet das ganze Luft- und Lichtgewebe wie ein Trugbild der Fata Morgana und macht langen, gehauchten Streifen von Luft und Schatten Raum, die in rechten Winkeln nach den Axen der Erde strömen und einen Gürtel bilden wie wir sie ähnlich an andern Planeten bemerken. Es sind große Dunstmassen, gejagt von den Passatwinden. Ihr leuchtender Strom geht von Nordosten nach Südwesten. Dazwischen bemerken wir andere leuchtende Dunstströme auf den Flügeln der indischen Moussons, tropischer und Polarwinde, die über einander hinweg in entgegengesetzten Richtungen vom Aequator nach den Polen, von den Polen nach dem Aequator jagen.

An jedem Ende der Axe, dem Süd- und Nordpole, flimmern große, leuchtende Flecke auf, die in Größe und Leuchtkraft je nach den 365 jährlichen Umdrehungen der Erde um ihre Axe zu- und abnehmem. Die Abnahme an dem einen Pole ist der Gewinn des andern, doch hält sich die leuchtende Weißheit am südlichen stets glänzender und größer als am nördlichen. Aber zwischen beiden Lichthäuptern der Kugel schiebt sich die Dunkelheit stets hin und her, sechs Monate ab-, sechs Monate zunehmend, eine stets interessante Augenweide und Verwunderung der Seleniten.

Dieses ununterbrochene Duelliren des Licht-Ormuz’ von den Polen her, gegen den finstern Ahriman in der Mitte mit dem Aequator gleichsam als Barriere oder als vertheidigte Position ist der Widerschein den Kampfes zwischen Winter und Sommer. Die weißen Hauben an den Polen sind die Eis- und Schneekappen des ewigen Winters. Der Planet Mars zeigt genau dasselbe Phänomen.

Jetzt hat die Sonne die Grenze unseres Mond-Horizontes erreicht und fällt plötzlich ohne Morgen- und Abendroth in den schwarzen Abgrund des Himmels, uns im starrsten Schweigen zurücklassend. Der große Mond des Mondes aber, unsere Erde, wirft ein herrliches, glorioses Licht auf unsern starren Felsen und auf die todten Schrecknisse umher, vierzehn Mal stärker als Vollmondlicht, von einer vierzehn Mal größeren und tausend Mal schöneren Scheibe ununterbrochener dissolving views. Die Seleniten bekommen das unverschleierte Gesicht ihrer großen, in Licht und Farben kämpfenden Erde selten unverschleiert zu sehen. Aber wir haben diese Nacht Glück, und das Gesicht der Erde verklärt sich wie ein überhauchter Spiegel, den man sorgfältig abwischt und entsendet einmal ausnahmsweise eine klare Fluth ruhigen, unverschleierten Lichtes auf uns und weit um uns her über die schweigende Schreckensgestalt des kleinen Mondes. Wir verfolgen die phantastischen Linien, welche das feste Land von dem ungeheuern Meeresspiegel trennen, entdecken Inseln und errathen in den Lichtkernen des festen Landes mit verschiedenen Graden von Helligkeit und Verschwimmung Gebirgszüge mit ihren Spitzen und unterscheiden an verschiedenen Farben, wie auf einer colorirten Landkarte, Erdtheile, deren Färbung durch physikalische Gestaltung bedingt wird.

Lambert in Berlin stellte schon im vorigen Jahrhundert die Behauptung auf, die Erde müsse, von andern Planeten aus gesehen, in einem grünlichen Lichte erscheinen wie Mars uns etwas roth ansehe. Am 14. Februar 1774 beobachtete er einen olivenfarbigen Schein im Mondlichte als Reflex von unserer Erde, doch hat man seitdem wohl nicht wieder ähnliche Reflexe beobachtet. Die vorherrschende Meeresoberfläche und das von grünen Wäldern bedeckte Südamerika könnten eine bestimmte Farbentinte der Erde im Weltenraume allerdings erklären; aber die Tinte, in welche verschiedene Theile der Erde zuweilen gerathen, hält nie Farbe. Ein Mondbewohner behauptete z. B., ein besonders geflickt und buntscheckig aussehender Theil in der Mitte Europa’s habe im Frühlinge vor acht Jahren eine schwarz-roth-goldene Tinte bekommen, welche aber seitdem bald wieder schwarz geworden sei. Doch glaube er, daß auch diese Farbe – nicht in der Wolle gefärbt sei. –

Ah, welch’ ein langgestreckter Streifen, der sich nach rechts dreht! Das südliche Ende der neuen Welt, Südamerika. Langgestreckter Schatten, durchwoben mit Lichtstreifen, diese besetzt mit funkelnden Brillanten, den Cordilleren und Anden mit den Vulcanspitzen 19000 Fuß hoch, geschildert von Humboldt. Der Streifen mit dem Cirkel antarktischen Schnees zieht sich zurück, und auf der andern Seite steigt ein ungeheuerer dunkler, theils grünlicher, theils bläulicher Fleck auf und verbreitet sich ewige Stunden lang beinahe über die ganze Scheibe. Der grünliche Hauch unterscheidet sich bedeutend von dem leichteren Grün Südamerika’s. Südlich gießt er sich über die ganze Scheibe aus, besäet mit kleinen, grünen Flecken: der große stille Ocean, überstreut mit Inseln.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Contusion
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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 230. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_230.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)