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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Sibirien einen Handelsort erreicht haben. So eine Reise dauert oft sechs Monate auf weglosen Steppen ohne Spur von Leben und Lebensunterhalt. Aber er stirbt so wenig, wie sein Thier. Wie letzteres kratzt er Nahrung aus der Erde, die scheinbar nichts enthält. Er ist in seiner Weise pfiffiger, schärfer, erfinderischer, als unsere größten Genies.

Ganze, zahlreiche Nationen um die Gestade des Polarmeeres herum leben ausschließlich von Rennthieren und Nichts. Ohne das Rennthier wären die nördlichen ungeheuren Länderstrecken von Amerika und Asien für Menschen unbewohnbar. Von diesem Kameele der Nordwüsten leben einige Millionen Menschen. Selbst die Fische sind nur durch das Rennthier zugänglich. Es liefert Köder und zieht den fern vom Meere verkrochenen Lappen und Finnen blitzschnell zu den Gestaden, wo die kurze Sommerperiode ihm Fische für’s ganze Jahr liefert, mit denen beladen er in seinem fliegenden Baumstamme, beschwingt vom Rennthiere, zwischen seine Felsen und zu seiner öligen, gelben Familie zurückkehrt. Sie fahren und reiten auf Rennthieren, sie melken ihre Rennthiere und rufen sie beim Namen, den jedes hat und dem jedes gehorcht, und gebrauchen in ihrer sonst bitterarmen, krächzenden Sprache 76 liebe Namen für ihr geliebtes, unerläßliches Rennthier im Allgemeinen, ohne die individuellen Taufnamen.

Zu den wunderlichsten Bewohnern dieser geheimnißvollen Gegenden gehört ein Thier, das in Wirklichkeit „weder Fisch noch Fleisch“ ist, mit dem selbst die Herren Naturforscher nicht viel anzufangen wissen und dem die Seefahrer und Küstenbewohner die verschiedensten Namen gegeben haben, wie Seekuh, Seepferd, Seelöwe, obgleich es weder mit einer Kuh, noch einem Pferde, noch einem Löwen irgend eine Aehnlichkeit hat. Besser ist der andere Name Seeelephant, am häufigsten aber der Name Wallroß. Das Thier ist zwar ein recht plumpes Geschöpf, von der Größe eines richtigen Ochsen, aber harmlos wie ein guter Bürger; zwar sehr häßlich, aber gesellig, liebenswürdig, heiter und muthwillig; zwar mit einer sehr harten Haut, aber mit einem gar weichen Herzen begabt, das Liebe und Freundschaft in höherem Maße fühlt, als Tausende von Menschenherzen. Wie das vielverbreitete und wohlbekannte „gute Thier“, der Philister, nur dann wüthend wird, wenn man ihm an den Geldbeutel greift oder ihn in seiner Bequemlichkeit stört, so wird das harmlose, liebenswürdige Wallroß nur dann kampflustig, grausam und blutgierig, wenn man sein gutes Herz verletzt, wenn man seine lieben Kleinen anzutasten wagt oder sich an seinen Freunden vergreift. Und seine Freunde sind alle Wallrosse. Die eigenen Leiden erträgt es mit exemplarischer Resignation. Greift das grausamste Geschöpf auf Erden, der Mensch, ein harmloses Wallroß an, so springen die andern aus Ruhe oder Schlaf auf oder unterbrechen ihre Spiele auf dem Eise, um dem Verfolgten zu Hülfe zu eilen. Eine solche Scene zeigt die Abbildung. Die Mannschaft des Schiffes Trent fühlte Langeweile und einige Matrosen erhielten die Erlaubniß, in einem Boote den Versuch zu machen, einige Wallrosse zu fangen, die sie in der Ferne auf dem Eise und in dem Wasser bemerkten. Es gelang ihnen, Eins zu überrumpeln und zu harpuniren. Aber kaum hatte es einen Schmerzenslaut von sich gegeben, so streckten sich überall aus dem Wasser dicke Köpfe mit langen Hauern und von allen Seiten kamen Wallrosse racheschnaubend dem Verunglückten zu Hülfe. Sie drängten nach dem Boote der Feinde, hieben mit den mächtigen Hauern in die Planken desselben, um es zu zertrümmern, oder packten die Schiffer, um sie mit sich in das Meer hinabzuziehen. Dazu brüllten oder tobten sie in schauerlicher Weise. Die Angegriffenen wehrten sich mit Spießen, Beilen oder Gewehren so gut sie konnten; aber an der Stelle eines erschlagenen Wallrosses traten immer wieder neue Kämpfer, und die Männer wurden endlich vom Morden müde und sie würden zuletzt den wüthenden Thieren haben unterliegen müssen, wenn man ihnen nicht von dem Schiffe Hülfe in andern Booten gesandt hätte.

Und ein Kampf mit einem Wallroß ist etwas Fürchterliches. Das Thier ist wegen seiner dicken zähen Haut nicht leicht verwundbar; es besitzt eine ungeheure Kraft; seine spitzen schweren Hauer zerreißen und zermalmen, was sie berühren, und sein Muth ist so groß, daß selbst der fürchterliche Eisbär, mit dem es eine entfernte Aehnlichkeit hat (wie unser Bild mit dem berühmten Eisbärenkampfe von Biard in der Schletter’schen Sammlung in Leipzig) ihm meist unterliegen muß.

Die Wallrosse, die, wie gesagt, sehr gesellig sind, zeigen sich manchmal in Heerden von Hunderten und es sieht possirlich genug aus, wie diese plumpen Geschöpfe auf großen Eisflächen liegen oder mit einander spielen; noch possirlicher, wie eine ängstliche Wallroßmutter ihr kalbsgroßes zartes Kleine vor irgend einer Gefahr bergen will, dasselbe unter den linken Arm (d. h. die linke Vordertatze) nimmt, so mit ihm fortläuft, dann kopfüber mit ihm sich in das Wasser stürzt.

Man jagt die Wallrosse ihres Thranes, namentlich aber ihrer Hauer wegen, die noch härter sind als Elfenbein und zu verschiedenen Arbeiten verwendet werden. Mittelst dieser Hauer klettert das Thier an hohen Eisfelsen hinauf, wie es sich derselben auch als Stütze bedient, um auf glatten Eisflächen sich fortzuhelfen.

Wovon die großen Thiere leben, weiß man eigentlich noch nicht recht genau; sie fressen Seegras, das ist gewiß, sie sollen aber auch, wie die Holländer, eine große Vorliebe für die Häringe haben, und große Mengen dieser überall verfolgten Fische verzehren.

Davon leben und existiren die Wallrosse. Aber jenseits der nördlichsten amerikanischen Küsten, wo der Schnee nie thaut und nie etwas Naturleben sich versucht, leben noch Menschen. Kapitain Roß entdeckte im nördlichsten Theile der Baffins-Bay auch einen Menschenstamm von 200 Seelen, die niemals etwas von noch andern Menschen gehört und gesehen und ihre armselige Höhle zwischen Felsen für die ganze bewohnte Erde hielten, alles Uebrige für eine ewige Masse von Eis. Sie hatten keine Erinnerungen, keine Traditionen, keine Gesetze, kein Mein und Dein, kaum Bewußtsein und nur einige kindische, grunzende Beschwörungsformeln ließen auf einen Keim früheren Glaubens und Ahnens schließen.

Bis zum Nordpol selbst ist’s aber von den äußersten Grenzen, wohin bis jetzt Menschen drangen, noch eine kleine Ewigkeit weit. Wie sieht’da aus? Es ist nicht desto kälter, je näher man dem Pole kommt. Wenn’s nun gar am Pole selbst sehr warm wäre, könnten da noch Menschen wohnen, mehr und glücklichere, als die in ganz Europa. Vielleicht findet man noch eine Chaussee dahin. Einstweilen wollen wir uns mit der bekannten, noch sehr unbekannten Erde begnügen und schließlich unsern alten Schulfreund Friedrich Körner in Halle, der neulich vom Südpole schrieb, grüßen.

H. B.




Wie sind die Speisen nahrhaft, verdaulich und auch billig zuzubereiten.

Daß der menschliche Körper zum Leben und Gesundbleiben der fortwährenden Zufuhr nicht blos aller derjenigen Stoffe bedarf, aus welchen er aufgebaut ist, sondern auch solcher, durch deren Verbrennung sich im Blute Wärme entwickelt, ist eine ausgemachte Sache und deshalb muß auch unsere Nahrung gerade wie die den Säugling ernährende Milch, außer Wasser und Kochsalz, stets die gehörige Menge an Eiweißsubstanzen (Albuminaten), Fett und Stärke- oder Zuckerstoffen enthalten, wenn sie zuträglich sein soll (s. Gartenlaube 1856. Nr. 3). Wohlhabende genießen bei ihrer verschiedenartigen Fleisch- und Pflanzenkost in der Regel die genannten Stoffe in hinreichendem Maaße; dagegen steht gewöhnlich bei Unbemittelten, die weit mehr an pflanzliche, wie an thierische Nahrungsmittel gewiesen sind, die Menge der einzelnen dieser Stoffe nicht im richtigen Verhältnisse zu einander und hauptsächlich sind es die Eiweißsubstanzen, von denen die Nahrung des Armen zu wenig besitzt. Man hat für jeden Tag als die geringste Quantität von den einzelnen Stoffen angegeben: bei anstrengender Lebensweise: 10 Loth Eiweißsubstanz, 3 Loth Fett, 34 Loth Stärke und 1 Loth Salz; bei mäßiger Anstrengung: 9 Loth Albuminat, 31/2 Loth Fett, 32 Loth Stärke und 1 Loth Salz; bei ruhigem Verhalten: 7 Loth Albuminat, 2 Loth Fett, 28 Loth Stärke und 1 Loth Salz.

Es ist mehr als zu bekannt, in welchem drückenden Nothstande die arbeitende Klasse in ganz Deutschland binnen 4 Jahren versunken

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 227. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_227.jpg&oldid=- (Version vom 14.3.2022)