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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

oft plötzlich in einen dicken, warmen Schneepelz, unter welchem der Frühling sanft schläft und sich vorbereitet, in stillen Athmungen zur großen frischen Auferstehung jede Jahres.

Aber der große Magiker entfaltet seine wahren Zauberkünste im Norden, in den Regionen des Seehunds und Eisbärs, an den Gestaden des Polarmeercs. Wenn der kurze heiße Polarsommer schwindet und die Sonne immer länger unter dem Horizonte bleibt, bis sie sechs Monate lang gar nicht mehr aufgeht, dann beginnt der Magiker seine Zauberkünste.

Land und Wasser liegen, nicht zu unterscheiden, unter der blendenden schweigenden Decke des Schnees. Ein Weißes Leichentuch mit Todtenstille auf viele Hunderte von Meilen nach allen Richtungen. Nicht ein einziges im Winde rauschendes Blättchen, kein nackter Strauch, keine Spur des ärmsten Mooses, nicht ein einziges Zeichen von Leben, so weit das Auge dringen, das Ohr horchen kann. Tod und Trostlosigkeit der starrsten Kälte scheinen allein zu herrschen. Aber der Tod ist Leben, ist selbst die energischste Arbeit, Leben zu erzeugen. So wird auch hier absoluter Tod die mächtigste Anstrengung, es leben, leuchten, kämpfen und arbeiten zu lassen. Zuweilen flittert und flickert ein blasses, gelbes Licht am Horizonte auf und haucht einen magischen Widerschein über den weißen, lautlosen Tod grenzenloser Eisflächen. Es verschwindet, und Mond und Sterne gießen ihr schönstes Licht herab, es schreitet mit silbernen Schritten über die Höhen der Eisberge und gleitet mit schweigenden Küssen über die schlummernden Ebenen.

Und was fängt dort an zu bauen, von Innen und Unten herauf zu bauen? Gletscher thürmen sich auf wie durch vulkanische Kraft und gestalten sich zu Mauern und Wänden und spitzigen Kuppeln. In kühnen, wundervollen Bogen wölben sie sich auf zu der felsigen Küste, und auf der Ebene stellen sie sich zu luftigen Kolonnaden zusammen, wie zu Säulengängen alter egyptischer Riesentempel. Es sind keine todten Steine, es pulsirt Leben in diesen gigantischen Säulen und Wällen. Geisterhaftes, geheimnißvolles Licht von Doppel- und dreifachen, durch ungeheuere Farbenbogen vereinigten Sonnen zuckt und zackt durch die Himmel und blitzt herab auf die Eisbauten, und zahllose glühende Sterne flimmern hindurch. Die Eisberge glühen in azurnen und silbernen Flammen, und der rosig überhauchte Schnee blitzt zuweilen freudig auf, während der Himmel feine elektrischen Telegraphen und Lichtschriften herabspielen läßt. Licht und Leben kämpfen überall mit Finsterniß und Tod. Dann und wann breitet sich ein geisterhafter schweigender Schimmer über den ganzen Gesichtskreis, als wollte Auferstehung durch die Nacht des Todes brechen. Tiefe, starke Schatten ruhen neben glänzenden Höhen, wie der bittere Tod dem Sterbenden süße Hoffnungen eines künftigen Lebens einflößt, um sein Auge ruhig zum letzten Schlummer zu schließen.

Wenn endlich die lange Nacht wirklich zusammen schwindet und sich für den langen Tag zurückzieht, bricht auch diese Zauberei des polarischen Winters mit zusammen und aus. Nun stürzen sich schäumende, donnernde Ströme von den Höhen der Eisberge, und die wild auftriumphirenden Wogen des polarischen Oceans zerbrechen krachend ihre schweren, eisigen Fesseln, von denen sie so lange gebunden waren. Ungeheuere Fluthen, viele Geviertmeilen übertosend, reißen sich los, donnernd und jeden Widerstand niederwälzend nach allen Seiten. Gigantische Eisgebirge, unterminirt von freiheitsdurstigen Wassern, zittern und dröhnen, ehe sie mit furchtbarem Getöse ihre hohen weißen Häupter in den dunkeln Ocean stürzen. Die siegenden Wogen springen auf in triumphirender, weißen Schaum zum Himmel spritzender Freude, so oft sie einen solchen Feind stürzen und sich ersäufen sehen. Die Eisschlösser zerfallen zu den malerischsten Ruinen, die langen Arkaden zerbröckeln zu unförmlichen Haufen, die feenhaften Lichter erlöschen eins nach dem andern, und die ganze brillante Zauberwelt schmilzt zusammen, wie ein Traum beim Erwachen.

Dies sind die oberflächlichen Wunder nordpolarischen Lebens.

Größere bergen sich unter der Oberfläche, wahre Wunder, deren Lösung der forschende Menschengeist seit Jahrhunderten versuchte. Um und durch die Erde wallen fortwährend geheimnißvolle Geisterströme. Sie fallen und steigen wie Ebbe und Fluth des Meeres. Sie dringen in das Herz der Erde und empfangen ihre Pulsschläge daher. Sie wohnen gern in – Eisen und wo sonst noch? Sie schreiten auf unsichtbaren Wegen durch die Lüfte, durchdringen und umschweben jede Pflanze, jedes Leben, zünden die Nordlichter und färben die Finger Aurora’s rosig. Sie sind, wenn nicht Mütter, so doch Träger des Lichts auf Erden und in der Sonne. Was dem Alchemisten früherer Zeiten Liebe und Feindschaft unter den Erdkörpern war, ist uns jetzt Magnetismus, Elektricität, Chemismus. Wenn wir nur genau wüßten, was das nun wieder wäre? Der Geist des Magnetismus hat seine Heimath im unerreichbaren Norden.

Um die Küsten des großen Polar-Oceans strecken sich weit und breit Länder und Inseln, neun Monate oder länger, aber immer mit Schnee und Eis verschlossen. Hier wächst keine Pflanze, kein Baum. Nur in dicht umschützten Thälern wagen sich einige armselige Blüthen und Beeren rasch hervor. Graue Moose und sammetne Cryptogamen nehmen aber die wenigen Sonnentage wahr und bedecken die starrsten Felsen und die Ufer riesiger Ströme mit weichen Teppichen. Ein breiter Gürtel solcher Moosteppiche umschlingt die Taille des Nordpols, besternt mit zackigen Felsen, gemustert durch dunkele Sümpfe und Moräste. Diese Oeden würden lebensunfähig sein, wenn sie nicht durch zahllose Heere und Heerden von Rennthieren schon Leben hätten, und diese die eigentliche Lebensquelle ganzer Menschenracen wären. In den todtesten Wüsten ist die Fülle und Kraft und Energie des Lebens gerade am Wundervollsten. Wenn der Polarwinter am grausamsten und die Stürme am wüthensten, eilen diese graubraunen, hirschartigen Heerden in unabsehbaren Reihen und eisenbahnschnell nach den südlicheren Gegenden immergrüner Fichten, und die Berglappen dazu, welche mit ihren Heerden und Hütten wahrhaft wie die Zugvögel leben. Es ist ein nobles Schauspiel, diese unzähligen Schaaren wohlgestalteter, kräftiger Thiere mit deren graciös gewundenen Geweihen hoch in der Luft, so daß sie in der Ferne wandernden, laublosen Wäldern gleichen, über ungemessene Strecken mit ihren wohlgeschützten Hufen dahin knattern zu sehen und zu hören. Und wie sie sich im lustigsten Uebermuthe einander jagen und wie auf Schwingen über die schneebedeckten Steppen fliegen! Haben sie endlich nach hundertmeiligen Reisen den sichern Schutz des Waldes erreichn, stehen sie oft stundenlang still und bewegungslos, wie Theile des Waldes, dicht an einander gepreßt, um sich zu wärmen. Nach dem Sturme und erwärmt vertheilen sie sich in neuer Lebenslust, und wissen den Baumrinden und den aufgekratzten Moosen Nahrung abzugewinnen. Sie haben die feinste Witterung und wissen genau, wo Moos ist, und sollte es noch so tief verborgen und unzugänglich sein. Mit ihren mächtigen Hufen arbeiten sie sich oft sechs bis acht Fuß in den Schnee hinein und finden immer, was sie suchten und witterten. So leben sie bis der Frühling naht, ihr grimmigster Feind, nicht der nahende, sondern oft plötzlich in Millionen von Bremsen und Stechfliegen über sie herstürzende Frühling. So wie sie nur das fernste Summen eines solchen Feindes hören, fliehen sie in Schaaren zu Tausenden unaufhörlich nach dem Norden zurück. Aber nicht selten werden sie von ganzen, schwarzen Wolken dieser Feinde eingeholt und überfallen. Diese legen ihre Eier in deren Haut, Nasenlöcher, Gaumen, und werden so auf ihrer Flucht zu Hunderten zerstochen und in todte Beulen und Geburtsstätten neuer Insekten verwandelt. Erst im Norden sind sie wieder sicher und finden neue Felder unabsehbaren Mooses, von dem sie sich zuweilen förmlich mästen. Aber auch die den Insekten entgangenen Eilwanderer erreichen nicht alle ihre Reiseziele. Beim Durchschwimmen der großen, breiten Flüsse werden sie von Tungusen und Samojeden überfallen, durch wildes Geschrei erschreckt und durch einander gehetzt, so daß sie sich mit ihren Geweihen verwickeln und rathlos und verwirrt dem Schlachtmesser verfallen. Gierig stößt der listige Tunguse seinen Fellkahn unter diesen Wirrwarr und durchsticht sie mit den zugespitzten Knochen früher gefallener Collegen zu Hunderten, um alle seine Bedürfnisse daraus zu befriedigen, oder er wirft ihnen Schlingen über’s Geweih, zieht sie an’s Ufer und zähmt sie mit wunderbarer Schnelligkeit, so daß sie seinen Fellschlitten schneller über die Ebenen ziehen, wie bei uns ein Eisenbahnzug läuft. Die Entkommenen werden auf ihren Wanderzügen nicht selten noch von Wölfen und Eisbären überfallen, die ihre Pfade, von denen sie nimmer abweichen, kennen und ihnen dort auflauern. Tungusen und Samojeden, Lappen und Esquimaux treiben mit Rennthierprodukten und kostbaren Pelzwerken nicht selten Handel bis zu tausend Meilen weit entfernten Grenzen der Civilisation, über welche sie mit ihren Rennthierschlitten hinfliegen, bis sie in Amerika oder

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 226. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_226.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)